Winter, Ludwig (1868 – 1920), Gouvernementspfarrer

* 22.3.1868 in Wittenberg, + 22.3.1920 Frankfurt/Main

Nach dem Studium der ev. Theologie und Ordination zum Pfarrer war Winter zunächst seit Sommer 1895 Marinepfarrer in Wilhelmshaven, ab Frühjahr 1896 Schiffspfarrer für die nächsten 7,5 Jahre, u.a. 1900/01 Geschwaderpfarrer in Ostasien. Im Frühjahr 1905 kam er nach Tsingtau, wo er bis Mai 1915 als Gouvernementspfarrer blieb. Er wohnte zunächst in der Irenestraße 126, von 1906 bis 1915 im Lazarettweg, wo er sich ein Grundstück kaufte und ein Haus baute (das Haus steht heute noch, Pingyuan Road 12). Winters „Sprengel“ war sehr weitläufig, denn die deutschen Gemeinden in Tsinan, Tientsin und Peking hatten damals keinen eigenen Pfarrer, so dass er diese regelmäßig für die Durchführung von kirchlichen Amtshandlungen aufsuchen musste.

Da die deutsche Bevölkerung Tsingtaus ständig zunahm, erwies sich die 1899 errichtete Gouvernementskapelle immer mehr als zu klein. Da fügte es sich günstig, daß der Evangelische Kirchenausschuss in Berlin bereit war, eine größere Kirche für die Zivil-gemeinde Tsingtaus auf seine Kosten errichten zu lassen. Im Februar 1907 wurde das Ausschreiben des Architekten-Wettbewerbs veröffentlicht und im Juli das Ergebnis bekanntgegeben: den 1. Preis erhielt der Tsingtauer Architekt Curt Rothkegel, dessen Entwurf dann auch, mit stärkeren Abwandlungen, ausgeführt wurde. Winter war einer der 5 Herren gewesen, die das Preisgericht bildeten. Am Ostersonntag, den 19.4.1908, fand die Grundsteinlegung im Rahmen eines Feldgottesdienstes statt. Der Bericht darüber in den „Tsingtauer Neuesten Nachrichten“ vom 22.4. bringt auch Winters Predigt in vollem Wortlaut.

Im Sommer des Jahres 1910 scheint er nur einen kurzen Heimaturlaub wahrgenommen zu haben, auf welchem er am 15.9.1910 in Saarbrücken Emmy Schondorff heiratete. Sie war am 2.5.1881 in Heinitz geboren. worden. Da am 23.10.1910 die Einweihung der neu errichteten Christuskirche in Tsingtau stattfinden sollte, kann man fragen, wie er es geschafft hat, vom 16.9. bis 22.10. die Route von Saarbrücken bis Tsingtau zurückzulegen. Offensichtlich war dies nur mit dem Sibirienexpress möglich, die Fahrt war dann gleich die Hochzeitsreise. Die feierliche Einweihung der Christuskirche fand, in Anwesenheit des Gouverneurs Truppel, am 23.10.1910 statt. Fotos sind vorhanden, und der Text von Winters Weiherede und Predigt ist in den „Tsingtauer Neueste Nachrichten“ abgedruckt.

Dem Ehepaar Winter wurden in Tsingtau 2 Kinder geboren: Ilse am 29.7.1911 und Rolf am 22.6.1913.

Im Jahre 1911 publizierte Winter einen Tsingtauführer, ca. 90 Seiten stark, mit dem Titel: „Tsingtau. Eine Erinnerung an Ostasien.“ Das Büchlein war vor allem für die Soldaten und Matrosen gedacht, von denen jahraus, jahrein Tausende kamen und wieder gingen. Der Titel ist etwas irreführend, denn die Tsingtauer Routenbeschreibung nimmt nur ein Drittel des Textes ein, der viel umfangreichere zweite Teil behandelt auch Tientsin und Peking, da dort deutsche Soldaten stationiert waren, sowie auch chinesische Geschichte und Sprache, Kunst und Literatur, Religion, Landeskunde, Volksleben u.a.

Schwere Zeiten brachen 1914 mit Kriegsbeginn und dann der Belagerung durch die Japaner an. Seine Frau und Kinder schickte er zu der deutschen Bergwerkssiedlung Hungshan, wohin u.a. auch die Frauen Brücher und Crusen mit ihren Kindern gegangen waren. Später zogen die Deutschen dort weiter nach Shanghai.  Vollerthun hat in seinem Buch über den „Kampf um Tsingtau“ (S.156) das aufopferungsvolle Wirken Winters in der letzten Woche, als die Stadt und die Verteidigungslinie kontinuierlich beschossen wurde, geschildert: „Fast jeden Abend bis in die letzte Nacht hinein kommt Oberpfarrer Winter, auf seinem Wege zur Verwundetensammelstelle in der Bierbrauerei, an der Bismarckkaserne vorbei. Zuweilen führt ihn sein Weg auch in eins der Infanterie-Werke, immer aber durch schweres Artilleriefeuer. ‚Wo wollen Sie heute hin?’ frage ich ihn an einem der letzten Abende. ‚Nach I.-W. V’ ist die Antwort. ‚Aber das geht nicht, I.-W. V liegt unter schwerstem Feuer.’ … ‚Ganz gleich, versuchen will ich doch hinzukommen. Ich habe es ja einem Manne versprochen, der mich um Entgegennahme seines letzten Willens gebeten hat.’ Und er geht und ist, soviel ich weiß, auch zum Ziel gekommen. Und in der Sturmnacht steht er bis an den Morgen am Lager der Verwundeten in der unter heftigem Feuer liegenden Brauerei.“

Als am 7. Nov. 1914 der Kampf aufhörte, drangen nun die japanischen Truppen in die Stadt ein und begannen zu plündern. Vollerthun schreibt dazu (S.171): „Während der Oberpfarrer Winter in aufopfernder Tätigkeit bei den totwunden Soldaten weilte, drang man in sein Haus, erbrach den Schreibtisch und raubte dort das Geld, das mehrere ihm zur Aufbewahrung zu ihren Testamenten gegeben hatten.“

Die Besetzung Tsingtaus durch die Japaner hatte zur Folge, dass die deutschen Männer (4-5000), die an der Verteidigung teilgenommen hatten, sofort in die Kriegsgefangenschaft nach Japan gebracht wurden. Die im Landsturm tätig gewesenen wurden zunächst nicht behelligt, de facto aber dann doch im Laufe des Jahres 1915 nach Japan gebracht. Das führte dazu, dass ab Herbst 1915 nur noch zwischen 3-400 deutsche Frauen und Kinder und ein paar Dutzend älterer Herren in Tsingtau übrig geblieben waren. Die Japaner setzten Winter als Leiter oder Sprecher der Deutschen ein. Auch hatten sie die Absicht, die Christuskirche zu beschlagnahmen, weil sie sich sagten, für die kleine Schar sei das Gebäude nun viel zu groß. Andere Japaner meinten, man könne neben dem christlichen Gottesdienst dort auch buddhistische Gebetsstunden abhalten. Winter forderte deshalb die Frauen auf, jeden Sonntag in die Kirche zu gehen, um ihre Notwendigkeit zu beweisen. Das war in dem Winter 1914-15 nicht leicht, denn die elektrische Heizung war zerstört, auch hatte das Mauerwerk einige Schäden. Aber die Frauen zogen treulich mit Fußsäcken und Decken und kleinen, japanischen Handöfchen in die Kirche, die dadurch für die Deutschen gerettet wurde.

Da Winter als Sprecher Beschwerden der Deutschen gegenüber den japanischen Behörden vortragen musste und selbst auch immer wieder diese kritisierte, wurde das den Japanern zu lästig und teilten ihm am 8. Mai 1915 mit, dass er  Tsingtau innerhalb von 48 Stunden zu verlassen habe. Da der 9. Mai ein Sonntag war, hielt er in der Christuskirche noch einen Abschiedsgottesdienst und verließ am 10. Mai die Stadt mit dem Zug. Er begab sich zu seiner Familie nach  Shanghai, erhielt aber im Herbst 1915 einen Ruf aus Tientsin, die dortige deutsche Schule zu leiten. Von 1915 bis 1919 hat er dieses Amt ausgeübt und auch unterrichtet. Außerdem hat er noch zusätzlich das Pfarramt wahrgenommen und jeden zweiten Sonntag Gottesdienst und Kindergottesdienst gehalten. Im Frühjahr 1919 mussten auf Drängen der Briten die meisten Chinadeutschen das Land verlassen, auch Winter gehörte dazu. Er ließ sich in Frankfurt/Main nieder, wo er bereits im nächsten Jahr an den Folgen einer Malaria verstorben ist. Winter hat in Tsingtau Tagebuch geführt, zumindest während der Belagerung 1914, wie er in einem Brief vom Juni 1919 erwähnt. Es ist mir nicht bekannt, ob sich dieses erhalten hat. Vielleicht lohnt sich eine Nachfrage im Bundesarchiv-Militärarchiv Freiburg.

(Benutzte Quellen: Tsingtau Adressbücher; Evangel. Kirchenbuch Tsingtau; Tsingtauer Neueste Nachrichten; H.-J. Schmidt in www.tsingtau.info); W.Vollerthun: „Der Kampf um Tsingtau“, Leipzig 1920)