Der Streit von 1989 um den Tsingtauer Hauptbahnhof

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Das Bahnhofsgebäude in den 80er Jahren

Zusammengestellt von Wilhelm Matzat, Bonn

Der Anfang des Jahres 1989 brachte ein für Tsingtau bis dato ganz ungewöhnliches Ereignis, die erste öffentliche Diskussion über die Art und Weise, wie in Zukunft mit der deutschen Bausubstanz umgegangen werden soll. Ausgelöst wurde die Debatte durch die Ankündigung, dass das 1900-1901 errichtete Gebäude des Hauptbahnhofes (Architekt Heinrich Hildebrand) abgerissen werden sollte. Angeblich hatte die Stadtverwaltung bereits 1988 diesen Beschluss gefasst aber zunächst geheim gehalten. Man darf aber bezweifeln, ob dieser Plan wirklich von der Stadtverwaltung ausging, denn normalerweise hat diese für die Grundstücke des Militärs und der staatlichen Eisenbahngesellschaft keine Planungshoheit. Die Eisenbahndirektion kann auf ihrem Gelände prinzipiell tun und lassen was sie will. Wie dem auch sei, die Bekanntgabe des geplanten Abrisses löste öffentliche Proteste aus. Als erste protestierte Chinas Zeitung für Umweltschutz (Zhongguo Huanjingbao). Sie veröffentlichte einen Leserbrief des Professors an der Pekinger Kunstakademie, Wang Wenbing, einem gebürtigen Tsingtauer. Dieser führte aus: Der historische Wert des Bahnhofs, eines der ersten Gebäude überhaupt in Tsingtau, sei ebenso groß wie sein kultureller, gerade in einer Stadt, die man auch wegen ihrer vielen Baustile ein „Museum der Architektur“ nenne. Die bauliche Stadtlandschaft habe in der ultralinken Kulturrevolution enormen Schaden erlitten, nun wolle man mit der Zerstörung des Bahnhofs die einstigen Fehler noch potenzieren.

Anfang Februar 1989 veröffentlichte die Umweltzeitung auf ihrer ersten Seite ein Schreiben aus Taiwan, von dem dortigen Chinesen Ji Fuhe, ebenfalls einem gebürtigen Tsingtauer. Unter der Überschrift: „Über das Meer schallt der Ruf: Bewahrt das historische Kulturdenkmal“ beschrieb Ji, wie entsetzt er war, als er bei einem Besuch in Tsingtau von den Abrissplänen hörte. Aber nicht nur ihn bekümmere dies zutiefst, auch andere auf Taiwan lebende ehemalige Tsingtauer. – Diese Argumentation verdeutlicht, dass für viele Tsingtauer gerade der alte Bahnhof mit seinem Uhrturm ein Wahrzeichen oder das Symbol der Stadt ist.

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Wiederaufbau des historischen Bahnhofs – 2007

In Tsingtau selbst löste die in Peking gestartete Kampagne eine hitzige Debatte unter den Architekten der Stadt aus. Dabei ergab sich, etwas generalisierend, dass die älteren Architekten weniger, die jüngeren aber stärker an der Erhaltung der deutschen Architektur interessiert waren. Der Vizepräsident der Tsingtauer Gesellschaft für Ästhetik, Yan Zengxian, veranlasste daraufhin im Februar 1989 einen, zum damaligen Zeitpunkt geradezu „revolutionären“ Schritt, nämlich die Befragung von 10 000 Bürgern, welches Gebäude der Stadt für sie das schönste sei. Es ist leider nicht bekannt, nach welchem Verfahren die Stichprobe ermittelt wurde. Auch ist klar, dass die Befragten keinesfalls ein beliebiges Gebäude nennen konnten, dann hätte die Gefahr bestanden, dass bei den ersten zehn Objekten vielleicht nur deutsche Gebäude aus der Zeit vor 1914 genannt worden wären. Es wurden 10 Beispiele vorgegeben, mit der Auflage zu bestimmen, welches von den 10 das „schönste“ ist. Auf diese Weise wurde sichergestellt, dass von den Beispielen mindestens 5 Objekte chinesischer Provenienz waren. Außerdem waren 3 Beispiele gar keine Einzel-konstruktionen, sondern Ensembles. Paradoxerweise wurde der Hauptbahnhof nicht in die Liste aufgenommen, obwohl der Streit um ihn die ganze Diskussion ausgelöst hatte.

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Das Gouvernementdienstgebäude in den 80er Jahren

Die Auswertung ergab folgende Rangfolge in der Zahl der Nennungen:

  • Das Rathaus, das 1904-06 errichtete Gouvernementsdienstgebäude (Architekt: Friedrich Mahlke)
  • Die katholische Kathedrale, 1931-34 von der deutschen Steyler Missionsgesellschaft errichtet (Architekt: Alfred Fräbel SVD)
  • Die Residenz des deutschen Gouverneurs, 1905-07 gebaut (Architekt: Werner Lazarowicz)
  • Der 1984 auf der Spitze des Xiaoyüshan (Kleiner Fischberg) eingerichtete Park mit einem Aussichtsturm, annähernd im Stil einer Pagode (Architekt: Pan Yunlong, vom Qingdao Architecture Design Institute)
  • Hua Shi Lou, ein Gebäude am Strand Nr. 2 (German Beach), das 1930 von dem Russen Lembich errichtet wurde, dem Herausgeber mehrerer russischer Zeitungen in Shanghai. Der Architekturentwurf stammt von 4 chinesischen Architekten. Die Tsingtauer Chinesen, die gerade in dieses Haus mit seiner Granitverkleidung und einem „Burgturm“ besonders verliebt sind, halten es für ein Gebäude aus der deutschen Zeit. Weit verbreitet unter ihnen ist die (falsche) Ansicht, es handele sich um das Jagdhaus des deutschen Gouverneurs oder sogar des Prinzen Heinrich von Preußen usw.
  • Die Landungsbrücke in der Tsingtaubucht mit dem um 1932 an der Spitze errichteten Pavillon im chinesischen Stil.
  • Das Ensemble der um 1983 errichteten Badebuden (aus Beton und Ziegeln) am Badestrand Nr. 1 (dieses gesamte Ensemble wurde 2003 wieder beseitigt!)
  • Das „Badaguan“ genannte Ensemble der in den 1920iger und 1930iger Jahren errichteten Villen an der Badebucht Nr. 2 (German Beach). Auch hier sind viele Tsingtauer der falschen Meinung, dieses Wohnviertel stamme aus der deutschen Zeit.
  • Das um 1934 gebaute Aquarium im chinesischen Stil, im Luxun Park an der Laiyang Strasse (Architekt: Vladimir Yourieff)
  • Überführungen von Schnellstrassen an der Kreuzung Hang-zhou-Strasse (kurz vor 1989 gebaut).

Von den 10 Beispielen stammten nur 3 aus der Zeit nach 1949. Die ersten 3 Positionen wurden von deutschen Gebäuden besetzt, wobei die katholische Kathedrale erst in den 1930iger Jahren errichtet wurde. Yang Zengxian, der die Umfrage veranlasst hatte, bewertete das Ergebnis dahin, dass die Bevölkerung die Gebäude der Stadt primär nach ihrem Aussehen beurteilt und sie nicht mit politischen Assoziationen verbindet, etwa bei den älteren Häusern als Symbole einer kolonialen Vergangenheit und wie die Floskeln alle heißen.

Die folgende Abbildung gibt die Ergebnisse der Befragung auf Chinesisch wieder.

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Tatsächlich hat man den Hauptbahnhof, nach langen Debatten, erst Anfang 1992 abgerissen, allerdings mit der Ankündigung, dass man ihn, nach Errichtung der neuen großen Bahnhofshalle, räumlich etwas versetzt wieder aufbauen würde. In Wirklichkeit hat man dann nur den Uhrenturm, diesmal sogar etwas höher, und die alte Frontfassade wieder aufgerichtet, die letztere einfach an die Glaswand des neuen Bahnhofes „rangeklatscht“.

Da Tsingtau im Jahre 2008 Olympiastadt sein sollte, die Segelwettbewerbe sollten dort durchgeführt werden, wurde das „Neue Bahnhofsgebäude“ 2006 wieder abgerissen, es hat nur 14 Jahre gestanden. Nun wurde die Bahnhofsanlage in ganz anderer Form bis 2008 wieder aufgebaut, mit Anlehnung an deutsche Bauformen aus der Zeit vor 1914. Auch das alte Bahnhofsgebäude von 1900 wurde getreu auf seinem alten Standort wieder errichtet, diesmal dreidimensional.

Bauentwürfe für die 3. Version des Tsingtauer Hauptbahnhofs (Aufnahmen von 2007)