Krebs, Emil (1867 – 1930), Dolmetscher in Peking und Tsingtau – Das “Sprachwunder”

Dolmetscher in Peking und Tsingtau.

Eine Lebensskizze, zusammengestellt von Wilhelm Matzat, Bonn.

In den letzten 20 Jahren habe ich verschiedene Nachrufe und Dokumente über Emil Krebs gesammelt. Nun erhielt ich einen weiteren, mir bis dahin nicht bekannten Artikel zugeschickt. Er wurde 1962 verfaßt von Helmut Ruge und erschien in der Wochenzeitung „Christ und Welt“ mit dem Titel: „Der Mann, der 90 Sprachen beherrschte.“ Das für mich etwas Enttäuschende dieses Aufsatzes ist die Tatsache, daß er einige gravierende Fehler enthält und außerdem keine Quellen genannt werden. Dabei war es für mich nicht schwierig zu erkennen, daß dieser Aufsatz sich auf durchaus seriöse Quellen stützt. So hat Ruge als Erster die Personalakte von Krebs im Politischen Archiv des Auswärtigen Amtes (leider oberflächlich) ausgewertet – ohne dies im Text zu verraten. Andere Teile seines Berichtes sind dem Artikel von Heinrich Gutmann entnommen, der 1930 in der „Berliner Illustrirten Zeitung“ erschien, mit dem Titel: „Ein Kopf und hundert Zungen.“ Dieser letztere Text kann als zuverlässig angesehen werden, da Gutmann kurz nach dem Tode von Krebs von dessen Witwe seine Informationen bezogen hat. Ich will deshalb versuchen, eine Skizze des Lebenslaufes von Emil Krebs zu entwerfen, die wissenschaftlichen Ansprüchen einigermaßen genügt, wenn möglich mit Angabe der verwendeten Informationsquellen. Inzwischen habe ich im Archiv des Auswärtigen Amtes die Personalakte von Emil Krebs durchgesehen, viele Daten in dem Folgenden sind dieser Quelle entnommen.

Emil Krebs wurde geboren am 15. Nov. 1867 in Freiburg, Kreis Schweidnitz, Schlesien, als Sohn des Gottlob Krebs, Zimmermeister in Esdorf, Kreis Schweidnitz, und der Pauline, geb. Scholz. Die Familie war evangelisch. Emil besuchte die Elementarschule in Esdorf, dann die Realschule in Freiburg (1878-80), schließlich das Gymnasium in Schweidnitz von 1880 bis zum Abitur zu Ostern 1887. Aus seiner Schulzeit berichtet Deneke (1967, S.1):„Im dritten Jahr der Dorfschule fand er durch Zufall ein altes Zeitungsblatt in einer unbekannten Sprache. Er fragte seinen Lehrer. Es war Französisch. Der Lehrer lieh ihm aus Spaß ein französisches Wörterbuch.“ Gutmann (1930, S.979) spinnt die Geschichte weiter aus: „Emil zieht sich von den Gespielen zurück, verbringt jede freie Stunde im Wald und Anger, einem geheimnisvollen Studium hingegeben. Plötzlich, nach wenigen Monaten, tritt er vor seinen Lehrer: ‘Monsiör, sche etudieh franzeis! Wollez parler awek moi?’ – Gelächter, dann Staunen. Man nimmt den Knaben vor, stellt fest, daß er tatsächlich Französisch erlernt hat. Freilich, ohne von der Aussprache eine Ahnung zu haben. Dieser Fall wird entscheidend für das ganze Leben des kleinen Emil. Der einsichtige Zimmermeister gibt seinen Sohn auf das Gymnasium der nahegelegenen Stadt Schweidnitz. Dort leistet der Junge Ungewöhnliches. Latein, Griechisch, das er bald besser als seine Lehrer kann, genügen seinem Sprachenhunger nicht. So beschäftigt er sich mit Neugriechisch, Englisch, Italienisch, und als er auch diese Sprachen beherrscht, mit Spanisch, Russisch, Polnisch, Arabisch, Türkisch. Beim Verlassen der Anstalt, 17 Jahre alt, spricht Emil Krebs bereits 12 Sprachen.“ Gutmann zitiert den „einsichtigen Zimmermeister“, Krebs gibt aber in seinem Lebenslauf an, daß er erst 3 Jahre alt war als sein Vater starb. In der Personalakte ist auch das Abiturzeugnis. Daraus geht hervor, daß er in den Fächern Latein, Griechisch, Französisch die Note „gut“ erhielt, in den Fächern Hebräisch und Mathematik „sehr gut“. Der Mathematiklehrer hatte ihn in der Prima von den Unterrichtsstunden dispensiert unter der Bedingung, aus dem Klassenpensum monatlich eine Arbeit abzugeben. Krebs Witwe fand später ein kleines, schmales Bändchen: „Französische Sprachlehre“, in das in Kinderhandschrift hinter die deutschen die englischen und hinter die französischen die italienischen Vokabeln geschrieben worden waren.

Nach seinem Abitur zieht Krebs an die Universität Breslau und beginnt im SS 1887 mit dem Studium der Evangelischen Theologie, das er bereits nach dem ersten Semester aufgibt. Aufgrund seiner Sprachinteressen hat er offensichtlich die Absicht, in den Dolmetscherdienst des Auswärtigen Amtes einzutreten. Der Dienst für das AA kannte damals noch drei getrennte Laufbahnen: den diplomatischen, konsularischen und Dolmetscher-Dienst. Beim letzteren wurde man zunächst als sog. Dolmetschereleve angestellt und man mußte sich für 10 Jahre verpflichten. Wenn man nach 2 bis 3 Jahren seine Dolmetscherprüfung absolviert hatte, wurde man „etatsmäßiger“ Dolmetscher, vorausgesetzt, daß eine Planstelle frei wurde. Damit war man Beamter im Reichsdienst mit Anrecht auf eine Pension. Bewährte man sich in diesen 10 Jahren und hatte man wohlwollende Vorgesetzte, konnte der Dolmetscher nach 10 Jahren sich einer sog. Konsulatsprüfung unterziehen. Zu diesem Zwecke mußte er 2 schriftliche Arbeiten einreichen, eine „wissenschaftliche“ in deutscher und eine „praktische“ in englischer oder französischer Sprache. Die Themen stellte das AA. Fielen die Gutachten zu den Texten günstig aus, wurde einem die mündliche Prüfung erlassen. Damit eröffnete sich für einen ehemaligen Dolmetscher die Möglichkeit, aufzusteigen als Vizekonsul, Konsul, evtl. Generalkonsul. Da das Auswärtige Amt schon erwartete, daß ein Dolmetscher später in die Konsulatslaufbahn wechseln würde, in dieser aber juristische Kenntnisse nötig waren, empfahl das Amt allen Dolmetscheraspiranten, sowohl ein Jura- als auch ein Sprachstudium zu absolvieren. Genau dies tat auch Emil Krebs. Ab dem 2. Semester studierte er Jura an der Universität Berlin (WS 1887/88 bis WS 1890/91) und legte am 12.6.1891 die erste juristische Staatsprüfung ab. Am 10.8.1891 wurde er als Gerichtsreferendar am Amtsgericht Gottesberg in Schlesien vereidigt, wo er bis zum 31.5.1892 tätig war. Von Juni 1892 bis Juli 1893 war er dann Referendar am Landgericht I in Berlin.

Gerade als Krebs mit seinem Jurastudium begann, wurde in Berlin auf Betreiben des Auswärtigen Amtes das Seminar für Orientalische Sprachen (SOS) eröffnet, das Dolmetscher für den auswärtigen Dienst ausbilden sollte. Das Seminar gehörte nicht direkt zur Berliner Universität, war aber mit ihr irgendwie assoziiert. Leiter der Chinesischklasse wurde Herr Arendt, der jahrelang der 1. Dolmetscher an der deutschen Gesandtschaft in Peking gewesen war und nun den Titel „Professor“ führen durfte. Auch Krebs meldet sich zum Sprachstudium beim SOS. Dazu erzählt Gutmann (1930, S. 979): „Man fragt Krebs, welche Sprachen er betreiben wolle. ‘Alle!’ ist die kategorische Antwort. – ‘Das geht nicht.’ – ‘Also dann die schwerste!’ So wird Chinesisch sein Fach.“ Diese, wahrscheinlich später erfundene Anekdote, scheint insofern nicht sehr geistreich zu sein, weil bei der Eröffnung des SOS zunächst nur wenige Fremdsprachen unterrichtet wurden: in der Hauptsache Chinesisch und Türkisch. Immerhin gibt Krebs später in seinem Bewerbungsschreiben an das AA an, daß er während des Jurastudiums neben Chinesisch auch Türkisch und Arabisch gelernt habe. Schon lange vor der ersten juristischen Staatsprüfung legt er am SOS seine Diplomprüfung in Chinesisch ab, am 24.7.1890. Das Zeugnis ist unterschrieben von Prof. Dr. Ed. Sachau, Vorsitzender; Prof. C. Arendt; Kuei Lin; Dr. G. von der Gabelentz; Dr. W. Grube.

Ein Mitstudent von Krebs war Otto Julius Bierbaum, der auch Jura studierte und gleichzeitig mit ihm in die Chinesischklasse des SOS eingetreten war. Er stammte ebenfalls aus Niederschlesien (Grünberg), sein Vater war Konditor und Gastwirt. Doch bald machte das Geschäft seines Vaters Konkurs, so daß Bierbaum aus Geldmangel sein Studium aufgeben mußte. Er wurde Journalist und Schriftsteller, und bereits 1892 veröffentlichte er einen Band mit dem Titel „Studentenbeichten“. Es ist dies eine Sammlung von Erzählungen, die eine hat den Titel: „To-lu-to-lo oder wie Emil Türke wurde.“ Bei der Hauptperson dieser Geschichte handelt es sich um niemand anders als den ehemaligen Kommilitonen Bierbaums, Emil Krebs. Der Inhalt ist ungefähr folgender, wobei Bierbaum, der ja auch ein paar Semester lang Chinesisch studiert hatte, eine Reihe von chinesischen Worten und Sätzen einflechten kann: Ein Emil „Meyer“ studiert Chinesisch und wohnt als Mieter in einem Haus, wo er sich in die Zimmernachbarin Trudel N.N. verliebt. Sie machen gemeinsam Spaziergänge, und einmal treffen sie auch einen chinesischen Herrn namens Pan Wei-fu, den Emil kennt, denn Pan ist Lektor für Südchinesisch am SOS. Emil lernt allerdings Chinesisch bei Herrn Kuei Lin, der Lektor für Nordchinesisch ist. (Bierbaum hat also keine Hemmung, die tatsächlichen Namen der beiden Lektoren zu verwenden, denn wir haben oben bei Krebs Diplomzeugnis gesehen, daß Kuei Lin Mitprüfer war.) Trudel, deren Namen Emil in die „chinesische“ Form „To-lu-to-lo“ gebracht hat, findet aber den exotischen Pan viel interessanter als den schüchternen Emil, und Pan hängt dem Emil die Trudel ab. In einer Unterrichtsstunde schreibt Pan die chinesischen Schriftzeichen für To-lu-to-lo an die Tafel und übersetzt sie als: „Fremd kommt zu Fremd und wird vertraut“ – eine Anspielung auf die Beziehung des Chinesen Pan zur Deutschen Trudel. Diese Verspottung ist dem Emil zu viel und so endet die Geschichte mit dem Satz: „Emil verschwand aus der chinesischen Klasse und tauchte in der türkischen wieder auf.“

Der dichterischen Freiheit ist diese Pointe natürlich erlaubt, bezogen auf die Wirklichkeit ist die Feststellung nur zur Hälfte richtig. Denn Emil Krebs hat ja sein Diplom in Chinesisch gemacht (1890), aber als er im Frühjahr 1892 von Schlesien nach Berlin zurückkehrt, um als Referendar am dortigen Landgericht tätig zu sein, schreibt er sich gleichzeitig in der Türkischen Klasse des SOS ein. Just zu diesem Zeitpunkt erscheint Bierbaums Geschichte – die Emil Krebs wohl nicht entzückt haben wird .

Während seiner Referendarzeit in Gottesberg reicht Krebs am 16.8.1891 die normale Petition beim Auswärtigen Amt ein, im Dolmetscherdienst in China angestellt zu werden, und vom AA kommt dann die übliche Antwort, daß man momentan keine Verwendung habe, aber man würde ihn vormerken. Anfang 1893 schließlich teilt das AA ihm mit, daß man ihn benötige, aber nicht in China sondern in Konstantinopel! Türkisch habe er ja auch gelernt und er möge nur noch schnell die offizielle Diplomprüfung in Türkisch beim SOS absolvieren. Doch ehe es zu der Prüfung kam erhält Krebs am 30. 9. 1893 die Mitteilung, daß er doch nach China als Dolmetschereleve geschickt werden soll. Krebs unterschreibt den Zehnjahresvertrag, der ihm ein Monatsgehalt von 500.- Mark zubilligt und freie Wohnung im Gesandt-schaftshotel in Peking. Für die Ausrüstung erhält er zusätzlich 1200.- Mark. Am 22.10.1893 besteigt er das Schiff in Brindisi und trifft Anfang Dezember in Tientsin ein. Eine Eisenbahnverbindung nach Peking gab es noch nicht, so mußte er bei großer Kälte die Strecke im Schlitten auf dem Eis zurücklegen. Nur wenige Tage später prüft der dortige 1. Dolmetscher, Freiherr von der Goltz, Krebs Chinesischkenntnisse und lobt ihn sehr. Schon im nächsten Monat besteht er am 25.1.1894 die erste und am 1.2. 1895 die 2. Dolmetscherprüfung, jeweils mit der Note „gut“.

Um es vorwegzunehmen: Von Dez. 1893 bis Anfang 1901, also über 7 Jahre lang, hat Krebs überhaupt keine „Karriere“ gemacht, sondern blieb im Status des Dolmetschereleven hängen, so daß sich auch sein Gehalt in diesen 7 Jahren um keinen Pfennig erhöht hat! Dahinter steckte durchaus Methode der Verwaltung in Berlin. Indem sie die Eleven immer nur kommissarische Vertretungen wahrnehmen ließ und nicht in eine etatsmäßige Dolmetscherstelle einwies, sparte sie Geld. Ein Kollege von Krebs, Otto Franke, der 1888 als Dolmetscheraspirant nach Peking gekommen war, verließ später aus Protest gegen die schäbige Behandlung den auswärtigen Dienst und hatte Glück, er machte eine steile Karriere bis zum Professor für Sinologie an der Universität Berlin. Als Ordinarius hat er dann in seiner Autobiographie nur noch Spott und Hohn über die „verstockten“ Juristen der Ministerialbürokratie des Auswärtigen Amtes ausgegossen. So zitiert Otto Franke (1954, S. 68) seinen Kollegen Paul Georg von Möllendorff, der auch einmal Dolmetscher gewesen war, und der Franke den Rat gab: „Lernen Sie nie Chinesisch, wenn Sie im Dienst weiterkommen wollen, oder, wenn Sie Ihre Neigung dazu nicht unterdrücken können, tun Sie immer, als ob Sie nichts wüßten, sonst werden Sie rücksichtslos als Dolmetscher festgenagelt.“ In Peking gab es damals zwei etatsmäßige Dolmetscherstellen: der 1.Dolmetscher von 1890 bis 1900 war Conrad Freiherr von der Goltz, der zweite Dolmetscher von 1896 bis 1901 war Heinrich Cordes. Eigentümlicherweise waren beide von 1894 bzw. 1896 bis 1900 fast ständig von Peking abwesend, entweder auf Heimaturlaub in Deutschland oder als Vertreter bei anderen temporär vakanten Stellen an Konsulaten in China. In Peking wird im Oktober 1896 Krebs die Wahrnehmung der Geschäfte des 2. Dolmetscher übertragen, und aus Shanghai kam Otto Franke, der 1894 bis Mai 1896 und dann wieder von Juli 1897 bis 1898 den 1. Dolmetscher vertreten mußte. Durch den gemeinsamen Aufenthalt in Peking lernte Otto Franke den Emil Krebs ganz gut kennen, was dann viel später, als beide sich 1923 wieder in Berlin trafen, für Krebs nicht so günstige Auswirkungen haben sollte. Im übrigen hatten Franke, Krebs und Cordes sich schon als Mitstudenten in der Chinesischklasse des SOS kennengelernt.

Das Jahr 1897 brachte dann dem Emil Krebs folgenreiche Veränderungen in seiner bis dahin wohl recht eintönigen Arbeit in Peking von 1893-97. Die Reichsregierung, und vor allem die Leitung der Reichsmarine, bemühte sich seit Jahren, an der chinesischen Küste einen Stützpunkt für die Schiffe der Ostasiatischen Kreuzerdivision zu erwerben. Die chinesische Regierung war aber nicht bereit, einen entsprechenden Ort zur Verfügung zu stellen, weshalb man in Berlin fest entschlossen war, so einen Stützpunkt gewaltsam sich anzueignen. Nachdem man die verschiedensten Örtlichkeiten untersucht hatte, entschied man sich für die Bucht von Kiautschou an der Südküste Schantungs. Um sicherzustellen, daß diese Bucht wirklich für die Anlage eines modernen Hafens geeignet war, wurde der Geheime Marinebaurat Georg Franzius nach China geschickt, und Krebs begleitete ihn als Dolmetscher bei dessen Untersuchungen, bei denen auch die Kreisstadt Kiautschou aufgesucht wurde. Letzterer wird damals, als er im Mai 1897 sich in der Bucht von Kiautschou aufhielt, kaum geahnt haben, daß diese Gegend für die nächsten 3 Jahre seine Arbeitsstätte sein würde.

Der deutsche Gesandte in Peking war seit August 1896 Edmund Freiherr von Heyking. Seine Frau Elisabeth, Enkelin des Dichters Achim von Arnim und der Bettina Brentano, wurde später eine bekannte Schriftstellerin, vor allem durch ihren Peking-Roman „Briefe, die ihn nicht erreichten.“ Im Herbst 1897 machte Heyking, von seiner Frau begleitet, eine Reise nach Hankou, um dort die neue deutsche Niederlassung kennenzulernen. Krebs begleitete die beiden als Dolmetscher. Von Taku aus fuhr man mit dem Kriegsschiff „Prinzeß Wilhelm“ dorthin, wobei man am 10. Oktober 1897 auch in die Bucht von Kiautschou fuhr und bei dem Dorf Tsingtau an Land ging. Elisabeth von Heyking wurde damit die erste deutsche Frau, die den Boden Tsingtaus betreten hat. In ihrem Tagebuch notierte sie (v.Heyking 1926, S.227): „Die chinesischen Fortkommandanten hatten Kapitän Thiele gleich an Bord besucht, und Krebs mit ein par jüngeren Offizieren ging dann, die Visite zu erwidern. Wir sollten durchaus zu einem chinesischen Mahle kommen, zogen es aber vor, an dem hohen Strand zu lunchen, in einem aus Rudern und Segeln improvisierten Zelt.“ Krebs wird also bei dieser Gelegenheit den chinesischen Kommandanten Tsingtaus, General Zhang, kennengelernt haben. Fünf Wochen später sollten Krebs und der chinesische General sich wieder gegenüberstehen – dann unter ganz anderen Umständen. Am 27. Okt. erreichte man Hankou, wo man sich länger aufhielt als vorgesehen, da es zu einem „Zwischenfall“ gekommen war: deutsche Offiziere waren von Chinesen mit Steinen beworfen worden. Am 4. Nov. traf dann die Nachricht ein, daß in Schantung zwei deutsche Missionare der katholischen Steyler Mission ermordet worden seien. Damit war klar, daß der Gesandte so schnell wie möglich nach Peking zurückkehren mußte. Am 9. November erreichte man Wusung und ankerte ganz nah an S.M.S. Kaiser, dem Flaggschiff der Kreuzerdivision. Von ihrem Chef, dem Konteradmiral Otto von Diederichs, erfuhr man, daß Kaiser Wilhelm II. die Ermordung der Missionare als Vorwand benutzen wolle, die Bucht von Kiautschou besetzen zu lassen. Er müsse morgen nach Tsingtau segeln und benötige unbedingt Krebs dabei als Dolmetscher. So mußte der Gesandte v.Heyking auf dem Dampfer einer privaten Linie nach Peking zurückkehren, während v.Diederichs am 13. Nov. vor Tsingtau eintraf und zunächst auf der Außenreede ankerte. Die Besetzung war schon seit langem geplant und vorbereitet worden. So hatte man die Proklamation an die chinesische Bevölkerung bereits im Sommer in der Gesandtschaft in Peking entworfen, sehr wahrscheinlich hat damals Krebs den Text ins Chinesische übersetzt. Auf der Anfahrt in den Tagen 10. bis 13. Nov. wurde noch eine zweite Proklamation formuliert, die den Verkauf von Grund und Boden bis auf weiteres verbot, um jegliche Bodenspekulation zu verhindern. Auch diesen Aufruf hat Krebs übersetzen müssen. Bereits zum dritten Mal in diesem Jahr war er wieder einmal in Tsingtau. Am 14. Nov. landeten dann rund 700 bewaffnete Matrosen, die sich an verschiedenen Punkten aufstellten. General Zhang und die 2000 Soldaten seiner Garnison dachten, die Deutschen führen ein Übungsmanöver durch. Umso überraschter muß er gewesen sein, als in seinem Yamen ein deutscher Offizier in Begleitung von Krebs erschien, der Zhang mitteilte, dies sei kein Manöver, sondern eine Besetzungsaktion, und er müsse zusammen mit seinen Soldaten innerhalb von 3 Stunden das Tsingtauer Gebiet für immer verlassen, ihre Waffen dürften sie mitnehmen. Die weitere Geschichte Tsingtaus ist bekannt: in zähen Verhandlungen in Peking zwischen v.Heyking und der chinesischen Regierung, Otto Franke war der Dolmetscher, kam es am 6. März 1898 zum Kiautschouvertrag, in welchem das Gebiet um Tsingtau auf 99 Jahre an Deutschland verpachtet wurde.

An dieser Stelle muß auf zwei kapitale Irrtümer hingewiesen werden, die in dem oben zitierten Aufsatz von Ruge enthalten sind: „Im Jahr 1899 begleitete Emil Krebs den Gesandten von Heyking nach Tschifu und Shanghai wegen Übernahme des Pachtgebietes Kiautschou. Emil Krebs entwarf den Staatsvertrag.“ Meine oben gegebene Schilderung hat gezeigt, daß diese zitierten Behauptungen falsch sind. Die Reise Heykings im Oktober 1897 (nicht 1899) über Tschifu und Shanghai nach Hankou hatte nichts mit einer „Übernahme Kiautschous“ zu tun, und der sog. Staatsvertrag wurde in Peking von Nov. 1897 bis März 1898 in Peking ausgehandelt, wo Krebs gar nicht anwesend war, denn er hielt sich ja seit dem 14. Nov. 1897 in Tsingtau auf, und zwar dort ununterbrochen für d r e i Jahre, bis zum Herbst 1900! Aus diesem Grunde ist folgende Schilderung in dem besagten Artikel noch absurder: „Während des Boxeraufstandes von 1900 befand sich Krebs wieder einmal auf einer Dienstreise.“ Der Autor hat keine Ahnung, daß Krebs seit Nov. 1897 sich nicht auf einer Dienstreise befand, sondern in den Diensten des Reichsmarineamtes stand, an welches er durch das Auswärtige Amt für einige Zeit abgetreten worden war. Weiter heißt es dann: „…der Gesandte Freiherr von Kettler… wurde unterwegs ermordet, sein Gesandtschaftsrat Cordes verwundet. Viele neigten damals zu der Annahme, daß die Verschwörer in Cordes den Legationsrat Krebs vermuteten, der nach ihrer Meinung zuviel Einblick in die politischen Verhältnisse des Landes hatte. Sein Wissen war der Geheimgesellschaft I-Ho-tuan im Kampf gegen die Überfremdung des Landes unerwünscht.“ Größeren Unsinn kann man sich kaum vorstellen. Zunächst schmunzelt man über die falschen Namen und Titel. Der Gesandte hieß Ketteler, Cordes war simpler Dolmetscher und kein Gesandtsschaftsrat, Krebs nur Dolmetschereleve und kein Legationsrat. Krebs hatte in den 3 Jahren in Tsingtau gar keine Möglichkeit, mit Boxern zusammenzukommen, da diese sich 500 bis 600 km entfernt im Westen Schantungs formierten und dann in Richtung Peking marschierten. Daß die Attentäter in Peking nicht nur den Gesandten, sondern auch den begleitenden Dolmetscher Cordes umbringen wollten, hat doch einen einfachen Grund: es sollte keinen überlebenden Augenzeugen geben.

Doch nun zurück zu Krebs und seinem dreijährigen Aufenthalt in Tsingtau 1897 bis 1900. Das Pachtgebiet wurde nicht der Kolonialabteilung im Auswärtigen Amt sondern dem Reichsmarineamt (RMA) unterstellt, dessen Chef Tirpitz war. Für den Aufbau der Verwaltung und die Betreuung der Chinesen benötigte man natürlich einige Dolmetscher, die des Chinesischen mächtig waren. Solche besaß das RMA nicht, sondern mußte das AA bitten, welche zur Verfügung zu stellen. Dieses beorderte Dr. Wilhelm Schrameier, Dolmetscher am Generalkonsulat in Shanghai, nach Tsingtau, wo er am 2. Dez. 1897 eintraf. Das RMA konnte von sich aus einen ehemaligen Missionar, Heinrich Mootz, anwerben. In den Jahren 1897-1900 sah die Rangfolge so aus: Schrameier war erster, Mootz zweiter und Krebs dritter Dolmetscher. Schrameier war ein so energischer und arbeitsamer Mensch, daß er bald zum Chinesenkommissar aufstieg und von 1898 bis 1909 de facto der Chef der Zivilverwaltung wurde, obwohl es seit 1900 neben ihm noch einen Zivilkommissar gab. Ich habe über Schrameier 2 Bücher veröffentlicht (1985 u. 1998, siehe Literaturverzeichnis). Da er ein sehr strenger Mensch war, hat Krebs unter ihm offensichtlich sehr gelitten, und so nimmt es nicht wunder, daß er am 1. April 1900 ein Schreiben aufsetzt an den Reichskanzler Fürst zu Hohenlohe-Schillingsfürst mit der Bitte um Rückversetzung in den Dienst des AA, da dort der Aufstieg für ihn besser sei als in Tsingtau. Krebs bekam immer noch, wie im Anfangsjahr 1893, 6000.- Mark pro Jahr. In Tsingtau habe man ihm zwar jetzt die 1. Dolmetscherstelle angeboten mit einem Jahresgehalt von 9000.- Mark, aber als etatsmäßiger Dolmetscher im auswärtigen Dienst würde er 10500.- Mark erhalten. Er wollte eigentlich schon 1898 unter dem Gouverneur Rosendahl fort von Tsingtau, doch dann kam im Februar 1899 der neue Gouverneur Jaeschke, der ihn überredete zu bleiben .- Eine Zweitschrift dieses Briefes ging auch an den Gesandten Freiherr von Ketteler in Peking, und dieser schreibt am 20.4.1900 an den Reichskanzler: „Nach verschiedenen Andeutungen, welche sowohl aus kaufmännischen Kreisen, wie Seitens einiger mit den Verhältnissen in Tsingtau persönlich bekannter Beamter, an mich gelangt sind, und um deren ganz vertrauliche Behandlung ich bitten darf, glaube ich den wirklichen Grund zu dem Entschluß des Dolmetschers Krebs in dessen dienstlichen Beziehungen zu dem Civilkommissar für chinesische Angelegenheiten, Dr. Schrameier, suchen zu sollen, dessen Auftreten den übrigen Civilbeamten gegenüber bereits andere tüchtige und schaffensfrohe Angestellte des Gouvernements zur Aufgabe ihrer Stellung in Tsingtau bewogen hat.“

Zwei Monate später wurde Ketteler ermordet und der Dolmetscher Heinrich Cordes dabei verwundet. Dadurch hatte die deutsche Gesandtschaft in Peking keinen einsatzfähigen Dolmetscher mehr, denn v.d.Goltz war auf Urlaub in Deutschland und Krebs in Tsingtau. Nachträglich gesehen hatte also Krebs das große Glück, während der schrecklichen Belagerung der ausländischen Gesandtschaften nicht in Peking gewesen zu sein! Der neue ernannte Gesandte, Freiherr Mumm von Schwarzenstein, bestieg am 24.7.1900 den Dampfer in Genua und hatte es erreicht, daß der bedauernswerte Freiherr v.d.Goltz ihn begleiten mußte, obwohl er gerade erst in Berlin eingetroffen war, um einen 6-monatigen Urlaub in Deutschland zu verbringen. Außerdem hatte Mumm dem AA die Order gegeben, dafür zu sorgen, daß auch Krebs wieder als Dolmetscher in Peking zur Verfügung stehe. Wenn er in Shanghai eintreffe, solle Krebs dort zu seiner Entourage stoßen.

Dementsprechend teilt das AA dem RMA am 19.7.1900 mit, daß Krebs als Dolmetscher in Peking wegen der dortigen Ereignisse benötigt wird. Das RMA antwortet, das Gouvernement in Tsingtau sei am 30.7. angewiesen worden, Krebs dem neuen Gesandten bei dessen Eintreffen in China zur Verfügung zu stellen, bittet aber darum, Krebs später wieder dem Gouvernement zu überlassen ! Das AA erwidert dem RMA am 18.8., die Pekinger Gesandtschaft könne auch in Zukunft Krebs nicht entbehren.

Als Mumm in Shanghai Ende August eintraf, war Krebs nicht dort, denn das Gouvernement weigerte sich, ihn freizugeben. In einem Schreiben vom 10. Sept. an v.Tirpitz legt es dar, weshalb Krebs nicht sofort dem Mumm zur Verfügung gestellt werden kann. Der Text stammt natürlich von Schrameier, Jaeschke hat ihn nur unterschrieben. Der Brief gibt einen Einblick in die Tätigkeiten eines Dolmetschers in Tsingtau, deshalb seien einige Passagen daraus hier zitiert: „Der Fortfall des Dolmetschers Krebs würde für das Schutzgebiet nicht nur eine große Beeinträchtigung des Dienstes mit sich bringen, sondern geradezu eine ernste Störung des regelmäßigen Geschäftsbetriebes bewirken. Als Vorstand der chinesischen Kanzlei übersetzt Dolmetscher Krebs die ein- und ausgehende chinesische Korrespondenz mit den Provinzial- und Lokalbeamten, beurteilt die von allen Seiten einlaufenden Proklamationen und Bekanntmachungen der chinesischen Beamten der Umgegend, verfolgt die Auslassungen und Berichte der chinesischen Presse, soweit sie für das Gouvernement von Bedeutung sind und bearbeitet das reiche Bittschriften-Material, das die hiesige Bevölkerung dem Gouvernement unterbreitet. Hierdurch wird die Arbeitskraft eines Beamten vollständig ausgenutzt, nur auf den Mangel an geeigneten Beamten ist es zurückzuführen, daß Herr Krebs den Posten eines Bezirksamtmannes für Tsingtau noch außerdem zu versehen hat. Wird schon für die erste Arbeit eine vollständige Beherrschung der chinesischen Sprache verlangt, so setzt die zweite eine intime Kenntnis mit chinesischen Sitten und Anschauungen voraus, da der Bezirksamtmann den chinesischen Richter, dessen Zulassung wegen des allgemein bekannten chinesischen Charakters nicht wünschenswert erschien, ersetzen soll.“ Weiterhin teilt das eben zitierte Schreiben mit, daß der zweite Dolmetscher, Mootz, beim Kaiserlichen Gericht vollständig in Anspruch genommen ist, außerdem beherrsche er die chinesische Schriftsprache nicht in solchem Maße. Das Bezirksamt Litsun ist mit einem Dolmetschereleven (Dr. Wagenführ) besetzt. Sein Pflichteifer ersetze manche Mängel der Ausbildung.

Alles Klagen von Jaeschke und Schrameier half nichts, mit rund zweimonatiger Verspätung verläßt Krebs am 29.9.1900 Tsingtau auf der „Dresden“, auf der übrigens auch Jaeschke und sein Adjutant Freiher von Liliencron nach Tientsin fuhren. Dort trifft Krebs am 2.10. den Gesandten Mumm und kehrt mit ihm im November, nach dreijähriger Abwesenheit, nach Peking zurück. Daß Mumm so auf der Freigabe von Krebs bestand, hatte einen handfesten Grund: der langjährige erste Dolmetscher, Freiherr von der Goltz, sollte endlich in den diplomatischen Dienst aufsteigen . Von Krebs hatte sich inzwischen herumgesprochen, daß er ein ausgezeichnetes Chinesisch sprach und schrieb, und so machte er in seiner Karriere am 1.8.1901 endlich einen Sprung vorwärts: nach achtjähriger Dolmetscherelevenzeit (stets mit dem Jahresgehalt von 6000.- Mark) zum 1.Dolmetscher an der Gesandtschaft in Peking, jetzt mit einem Gehalt von 15000.- Mark, freier Dienstwohnung, und dem Titel „Secrétaire interprète.“ Von November 1900 bis Herbst 1901 gab es für die Dolmetscher viel zu tun, denn es liefen die Friedensverhandlungen zwischen den ausländischen Mächten und der chinesischen Regierung nach dem „Boxerkrieg“. Sie wurden mit dem sog. Boxerprotokoll abgeschlossen. Der chinesische Kaiser verleiht Krebs für seine Tätigkeit bei diesen Verhandlungen den Orden des Doppelten Drachen 2. Klasse 3. Stufe. Schon 4 Jahre vorher hatte Krebs vom deutschen Kaiser den Kronenorden 4. Klasse erhalten für seine Verdienste bei der Besetzung Tsingtaus. (Krebs hat später noch weitere Orden erhalten, die aufzuzählen nicht lohnt.) Am 24.4.1908 verleiht Kaiser Wilhelm II. ihm den Rang eines Rates 4. Klasse. In demselben Jahr drängt man ihn, das Konsulatsexamen abzulegen, was Krebs aber ablehnt. Das AA sandte daraufhin am 8.2.1909 einen Erlaß an die Gesandtschaft in Peking: „Es ist nicht angängig, dem ersten Gesandtschaftsdragoman Krebs, der sich dem Konsulatsexamen nicht unterziehen und somit auf die Ernennung zum Konsul verzichten will, im Falle seines Verbleibens in der gegenwärtigen Stellung ein persönliches, pensionsberechtigtes Gehalt zu gewähren, das dem der Konsuln entspricht, sofern man bereit ist, seine Dienstleistung anzuerkennen.“ Am 15.2.1912 schließlich verleiht der Kaiser ihm den Charakter als Legationsrat. Diesen Titel sollte er bis zu seinem Tode beibehalten.

Verschiedene Autoren berichten, daß Krebs Beherrschung der chinesischen Sprache die Bewunderung auch von Mitgliedern der chinesischen Regierung gefunden habe. Lessing (1930, S.266) schreibt: „Einmal erkundigte sich ein solcher Feinschmecker in Stilfragen wie Li Hungdschang, welcher Chinese die besonders klaren, gut geschriebenen Akten, die von der deutschen Gesandtschaft an die chinesische Behörde kämen, verfasse. Es stellte sich zu seinem Erstaunen heraus, daß das ein Deutscher, nämlich Krebs, tue. Die berühmte alte Kaiserinwitwe, eine Frau mit einer besonders gepflegten Sprache, unterhielt sich mit besonderer Vorliebe gerade mit ihm, als dem sorgfältigsten und besten Sprecher des Chinesischen unter den Ausländern.“ Und Frau Deneke (1967, S.5): „Von Zeit zu Zeit sandte die Kaiserinwitwe einen Palankin mit Gefolge und ließ Krebs zum Tee holen. Dann saß sie in einem schwarz-geschnitzten, breiten Sessel mit wunderbar schillernden Seidenkissen; sie selbst in gelber Seide, märchenhaft gestickt. Rechts und links Pyramiden von frischen Äpfeln, ihr Lieblingsparfüm. Das Porzellan ihrer henkellosen Tasse war so dünn, daß man ihre mit kostbaren Hülsen geschützten Fingerspitzen durchschimmern sah. Den Tee schenkte man, den Fremden zu ehren, aus einer abscheulichen blauen Emaillekanne, einem Küchengerät. – Krebs erlebte eine Reihe Gesandter, Nullen und Könner. Erstere waren ihm die bequemsten, denn sie ließen ihn schalten. Mit Hochachtung sprach er (wenn er sprach) von dem österreichischen Gesandten von Rosthorn, dem deutschen von Heyking, dessen Gattin in ihrem damals bekannten Roman „Briefe, die ihn nicht erreichten“ auch den „gelahrten Herrn“ auftreten ließ, von dem russischen Secrétaire interprète Staatsrat Kolossof und dem italienischen Legationssekretär Baron Daniele Varé, Schöpfer des vielgelesenen Romans „Der lachende Diplomat“ und mit einer Chinesin verheiratet, von den Legationsräten an der deutschen Gesandtschaft: Ago Freiherr von Maltzan, sowie Gustav von Bohlen und Halbach (der später Bertha Krupp heiratete), mit dem ihn nicht nur ein gemeinsamer Koch, auch jahrelange Freundschaft verband.“

Bis zum Frühjahr 1917 bleibt Krebs der 1.Dolmetscher in Peking. Werner Otto von Hentig kam als junger Attaché 1911 an die Gesandtschaft in Peking und erzählt in seiner Autobiographie Folgendes (Hentig 1962, S. 33-35): „Krebs war ein Phänomen. 1912 beherrschte er 32 Sprachen, nicht in der Art, wie es die Vielsprachler von sich behaupten, sondern ebenso elegant und gut das Arabische wie das Russische oder Italienische. Er sprach ein so vollendetes Toskanisch, daß der einzige Italiener Pekings, dessentwegen, so schien es, eine Gesandtschaft und Schutzwache unterhalten wurde, mich jedesmal bat, ich möchte den Dottore Krebs zu einem freien Haarschnitt in seinen Salon einladen, um sein Toskanisch genießen zu können.

Wie er zu einer neuen Sprache kam, habe ich einmal miterlebt. Er, Dobrikow und ich waren eines Mittags von einem großen amerikanischen Antiquar zum Frühstück ins Wagons Lits eingeladen. Nach einiger Zeit rückte Krebs, der bis dahin still und stumm dabeigesessen hatte, unruhig hin und her. Dann hielt es ihn nicht mehr, er stand auf und ging auf einen hinter uns stehenden Tisch zu. Linkisch führte er sich bei zwei dunkelhaarigen Herrn vom Mittelmeertyp ein und verließ sie bald ganz erlöst. Fremde, ihm selbst fremde Sprachlaute waren an sein Ohr geschlagen. Er konnte sie weder im Westen noch Osten Asiens unterbringen. Es war Armenisch gewesen. Noch am gleichen Tag bestellte er telegraphisch in der Leipziger Universitätsbibliothek eine armenische Grammatik, altarmenische Kirchenliteratur und moderne armenische Romane. Für die Grammatik brauchte er zwei, für das Altarmenische drei und die gesprochene Sprache vier Wochen. Dann beherrschte er sie aber auch.

Persönlich kam ich verhältnismäßig gut mit dem Gewaltigen, dem Menschenverächter, aus. Er hatte mir auch einen schönen chinesischen Namen, ein grammatisch-politisches Meisterstück, zugedichtet. Aus Hentig wurden drei Charaktere: Han wie das Urvolk Chinas, ti gué ‘mit Eigenschaften höchsten Grades’. So wurde denn der 25jährige Attaché angekündigt als der ‘alte Herr Han aus dem Tugendland (de guo, Deutschland) mit Eigenschaften höchsten Grades’. Das war jedenfalls eine bessere Einführung, als sie der ihm lästig gewordene Korrespondent des ‘Berliner Lokal-Anzeigers’ Kapitän z.S.a.D. Pustau erfuhr, dessen Namen er in bu dsche dao, ‘ich weiß von nichts’, transponiert hatte.

Der Verkehr mit Krebs war schwer. Die chinesischen Amtsdiener fürchteten seine Grobheit. Auch uns sagte er auf einen freundlichen Gruß: ‘Was wollen Sie, lassen Sie mich in Ruh!’ Einmal wünschte ihn der Gesandte am frühen Nachmittag dringend zu sprechen. Ich wurde vorgeschickt, ihn zu holen. Sein würfelförmiges kleines Häuschen war von vier Mauern vollkommen abgeschlossen. An zwei Seiten hatte er Kai mön di (Pförtner) installiert, die jede Störung von ihm fernhalten sollten. Da er von Mitternacht bis 4 Uhr morgens Sprachen, in seinem Eßsaal unbekleidet umherwandernd, nur durch eine Flasche Germaniabräu (aus Tsingtau) in jeder Ecke gestärkt, repetierte, schlief er des Nachmittags. ‘Herr Legationsrat Krebs, hsiao lao ye, Seine Exzellenz läßt Sie bitten.’ Keine Antwort. Lauter: ‘Herr Krebs, der Gesandte braucht Sie dringend.’ Keine Antwort. Noch lauter: ‘Der Herr Minister läßt bitten.’ Endlich ein unwilliges Brummen. ‘Herr Krebs, Herr Krebs, lassen Sie mich doch ein!’ ‘Der Gesandte kann mir, lassen Sie mich in Frieden.’ ‘Darf ich Ihnen beim Anziehen helfen?’ ‘Gehen Sie zum Teufel!’ ‘Man braucht Sie dringend.’ ‘Das behauptet man immer.’ Inzwischen hatte Krebs, krebsrot an seinem Hemdenknopf würgend, Befehl zum Öffnen der Mauertür gegeben und sich grollend in Marsch gesetzt. Wie der Fall zeigt, kein bequemer Mitarbeiter.“

Hentig hält noch eine andere Beobachtung fest (1962, S.32): „Wer lange in China gelebt hat, gerade also auch der Sinologe, ist entweder vom Lande bis zur Selbstaufgabe eingenommen oder lehnt alles Chinesische schroff und meist nicht ohne Überheblichkeit ab. Unser erster und zweiter etatsmäßiger Dolmetscher (Krebs und Dr. jur. Erich Hauer) gehörten zur letzten Kategorie. Hauer ließ seinen Koch deutsche Küche kochen und aß abends Rügenwalder Wurst und Spickgans zu Schultheißbräu.“ Erst als die Revolution von 1911/12 das Kaiserhaus zur Abdankung zwang und China eine Republik wurde, „entdeckten die beiden ihr Herz für Altchina und seine geheiligten Überlieferungen. Krebs und Hauer empörte die revolutionäre Bewegung mehr persönlich, als sie von ihr geschichtlich bewegt wurden. Beide sprachen sich sowohl über den Vater der Revolution Sun Yat-sen wie über seine Gefolgsleute, die bald die nationale Partei – die Kuomintang – überwiegend aus Amerikastudenten bildeten, sehr abfällig aus. Die bald zusammengetretene Volksvertretung – ein wahlenlos geschaffener Parlamentsersatz – die darin gehaltenen Reden und von ihr und einer Art demokratischer Regierung plakatierten Projekte waren Gegenstand ihres unablässigen, zum Teil wohl nicht unbegründeten Spottes“ (Hentig 1962, S. 44). Nicht für alle Diplomaten in Peking scheint das Dasein dort besonders attraktiv gewesen zu sein. Hentig (1962, S. 36) berichtet von dem amerikanischen Gesandten Calhoun, daß „er bei seinen eigenen langweiligen Diners ein Buch hervorzog und unter dem Tisch las“!

Dreimal war Krebs auf Heimaturlaub: zunächst vom 13.9.1902 bis zum 4.6.1903. Beim zweiten Mal (vom 24.6.1907 bis zum 9.5.1908) nahm er in Berlin an einem Treffen ehemaliger „Ostasiaten“ teil. Unter den Versammelten waren auch Frau Heyne und deren Schwester, Frau Toni Deneke. Letztere erzählt in ihren Erinnerungen (S.3): „Neben uns saß ein Herr mit Spitzbart und einem klugen, aber verschlossenen Gesicht. ‘Gelehrtes Huhn, spricht 45 Sprachen’, tuschelte uns meine Schwester zu. Mein witziger Mann pflegte später von diesem Abend zu berichten: ‘Ein interessanter Abend. Ein gelährter Herr, der sich in 45 Sprachen ausschwieg.’ Damals ahnte ich noch nicht, daß sechs Jahre später dieser mysteriöse Fremde mein Schwager werden würde.“ – In seinen dritten Urlaub (17.10.1911 bis 11.5.1912) fiel gerade die chinesische Revolution, so daß er die Abdankung des Kaiserhauses vor Ort nicht miterlebt hat. Bei diesem Aufenthalt besuchte er auch Schrameier, der 1909 Tsingtau verlassen und anschließend sich hatte pensionieren lassen. Ein Zeichen, daß Krebs Animositäten gegen ihn aus der Tsingtauer Zeit (1897-1900) verflogen waren. Schrameier wohnte in Berlin-Halensee und in der Nähe auch Frau Amande Heyne, geschiedene Frau des Kapitänleutnants z.S. Adolf Heyne. (Er hat später einen Tsingtau-Roman veröffentlicht, mit dem Titel: „Frühlingsstürme. Ein Offiziersroman“, erschienen 1909 im Verlag Wilhelm Köhler, Minden.) Frau Heyne hatte aus ihrer Ehe 2 Töchter: Charlotte-Luise, geb. 17.10.1900 in Kiel, und Irmgard, geb. 15.12.1903 in Magdeburg. Herr Heyne hatte vom 1.1. 1904 bis 31.12.1906 ein Landkommando in Tsingtau als Leiter der Meteorologischen Station, so daß das Ehepaar Heyne mit den 2 Töchtern drei Jahre lang dort wohnte. Die Familie Heyne wohnte erst in der Pension Luther, ließ sich aber von Architekt Rothkegel ein Haus am Christweg bauen. Bei dieser Gelegenheit freundeten sich Heynes und Schrameiers an. Als letztere dann in Berlin-Halensee sich niederließen, zog Frau Heyne ebenfalls dorthin. Durch Schrameier lernte Krebs Frau Heyne kennen, und der hartnäckige Junggeselle, inzwischen 45 Jahre alt, war wohl des Alleinseins müde. Er machte Frau Heyne einen Heiratsantrag, sie sagte nicht nein, nicht ja. Er verlängerte seinen Urlaub. „Ihr Zögern kostet mich pro Tag 60 Mark. Jeder überschrittene Tag wird vom Gehalt abgezogen.“ Am 11.5.1912 traf Krebs wieder in Peking ein. Erst später sagte Frau Heyne brieflich zu, und am 13.1.1913 fuhr sie von Berlin ab, mit dem Zug über Sibirien nach Peking. Die standesamtliche Trauung fand im Generalkonsulat von Shanghai am 5.2.1913 statt, die kirchliche Trauung wurde am selben Tag durch Pfarrer Lic.Wilhelm Schüler im Haus von Herrn Michelsen vorgenommen. Frau Amande Heyne war eine geborene Glasewald, * in Mansfeld am 20.11.1877 als Tochter des späteren Geheimen Jusstizrates Glasewald, der später in Magdeburg lebte. Sie hatte am 29.5.1899 in Kiel den Marineoffizier Adolf Heyne geheiratet (kirchlich in Magdeburg 9.7.1899). Adolf Heyne wurde am 8.5.1874 in St. Moritz geboren, seine Eltern lebten aber später in Naumburg. Seine Ehe wurde bald nach 1906 geschieden, er schied aus dem Militärdienst aus und lebte in Macau, wo er anscheined auch gestorben ist.

Die Hochzeitsreise von Emil und Amande Krebs ging mit Ochsenkarren, Maulesel, Rikscha, Sänfte quer durch China. Man besuchte den heiligen Berg Taishan, Nanking, fuhr auf dem Sikiang Fluß, dann Canton, Hongkong, Macau. Ein dreiviertel Jahr danach kamen die beiden Töchter Heyne (13 u. 10 Jahre alt) ganz alleine mit dem Sibirienexpress nach Peking, denn deren Hauslehrerin, Frl. Margarete Berlin, hatte keinen Platz mehr in dem Zug erlangt und folgte 14 Tage später. Als der 1.Weltkrieg begann, verließen viele deutsche Frauen und Kinder Tsingtau, da ein Angriff auf die Stadt zu erwarten war. Diese wurden in Shanghai, Tsinanfu, Tientsin und Peking untergebracht. Bei Familie Krebs in Peking wohnte seit Spätherbst 1914 die Frau des deutschen Gouverneurs von Tsingtau, Frau Meyer-Waldeck mit ihren 3 Kindern, bis sie im Sommer 1915 nach Deutschland zurückkehrte.

An der Hochzeitstafel hatte der Konsul den frischgebackenen Ehemann ermahnt, nun nach so vielen Fremdsprachen auch die Sprache der Liebe zu lernen. Hat er es getan ? Wir haben bereits oben einige seiner typischen Allüren beschrieben. Frau Krebs war aber fest entschlossen, ihren zweiten Mann in seiner Art zu akzeptieren. Der bereits mehrfach erwähnte Ruge Artikel (S.19) zitiert aus einer nicht genannten Quelle: „Sie nannte ihren Mann im Gespräch Krebschen. Einige ihrer Sätze sind schriftlich überliefert: Krebschen war von den Sprachen besessen. Er arbeitete stets bis 3 Uhr nachts, hatte immer ein Buch in der Hand und ging murmelnd um den Schreibtisch. Krebschen konnte alles abschalten, er lehnte alles ab, was für ihn uninteressant war, konnte abweisend und schroff sein, wenn man mit belanglosen Dingen kam, hatte aber ein feines, vornehmes Wesen, war anlehnungsbedürftig und hing mit großer Liebe und Zärtlichkeit an mir.“ Weiterhin heißt es in demselben Artikel (S.18): „Als sie einmal an ihrem Geburtstag sein Studierzimmer betrat, in dem er meist stehend arbeitete, hatte er ein Geschenk für sie in der Hand: einen Band persischer Lyrik. Sein Gesicht war nicht so düster wie sonst; heiter übersetzte er seiner Frau die persischen Liebesgedichte, ohne zu merken, daß er sie nicht auf deutsch, sondern in einer völlig fremden Sprache vortrug.“ Gutmann (1930, S. 982) erwähnt ebenfalls diese Episode und meint, Krebs habe den persischen Text spontan ins Lateinische übersetzt. Weiterhin führt er aus: „Der alte Legationsrat kannte keine Müdigkeit. 5 Stunden Schlaf genügten ihm. Er selbst führte diesen erstaunlichen Zustand darauf zurück, daß er sich fast ausschließlich von Fleisch ernährte, und daß er niemals einen Hut trug. ‘Der Kopf muß frei bleiben!’ pflegte er zu sagen. Und so erhielt er sich bis an sein Lebensende gesund.“ Die Personalakte erzählt allerdings etwas anderes. So beantragte er 1907 einen Heimaturlaub „wegen angeschlagener Gesundheit.“ Und Anträge in den 1920er Jahren auf einen Erholungsurlaub begründet er mit rheumatischen Beschwerden – kein Wunder bei ständigem Fleischgenuß.

Als China im Frühjahr 1917 die diplomatischen Beziehungen zum Deutschen Reich und Österreich-Ungarn abbrach, mußten die deutschen Diplomaten das Land verlassen. Die Vertretung der deutschen Interessen übernahmen die Gesandtschaft und die Konsulate der Niederlande. Diese benötigten natürlich dafür deutschsprachige Mitarbeiter, so blieben einige deutsche Dolmetscher und Konsuln in China, als Angesellte der Niederlande. In Peking, wo Krebs auch gute Beziehungen zu chinesischen Politikern gehabt hatte, plädierten einige von ihnen dafür, daß er als Mitarbeiter der niederländischen Gesandtschaft in Peking bleiben sollte. Daraufhin eilte der französische Gesandte ins chinesische Außenministerium und posaunte: „Monsieur Krebs, jamais!“ Die deutschen Diplomaten, unter ihnen Krebs mit Frau und den beiden Stieftöchtern, fuhren am 25.3.1917 mit dem Zug von Peking nach Shanghai, von dort mit dem Schiff nach San Francisco (27.3. bis 21.4.), dann im plombierten Zug nach New York (28.4. bis 3.5.), und weiter auf einem niederländischen Schiff von New York nach Rotterdam (4.5. bis 21. 5.). Am 23.5. traf man in Berlin ein. Krebs und seine Familie wohnt zunächst in Naumburg bei Frau Glasewald, der Mutter seiner Frau. Hin und wieder ist er in Berlin, um sich im Auswärtigen Amt zu erkundigen, welche Verwendung dieses für ihn hat. Bei einem dieser Aufenthalte wohnt er auch bei Schrameier in Berlin-Halensee. Ab Nov. 1917 war er wieder im Dienst und wurde in Berlin in der „Nachrichtenstelle für den Orient“ beschäftigt, welche das Auswärtige Amt während des 1. Weltkrieges eingerichtet hatte. Sie befand sich in der Tauentzien Str. 19a, wo Krebs auch wohnte (die Familie blieb anscheinend zunächst in Naumburg, zog später nach Berlin in die Lindenallee). Einer der zahlreichen Mitarbeiter dieser Nachrichtenstelle war der junge Indologe Dr. Helmuth von Glasenapp, später Ordinarius für Indologie an den Universitäten Königsberg und Tübingen. In seiner postum erschienenen Autobiographie (1964) gedenkt er auch des Emil Krebs. Sein Urteil wird weiter unten wiedergegeben werden. Die Nachrichtenstelle hatte zur Aufgabe, wertvolle Nachrichten über die Länder des Nahen und des Fernen Ostens zu sammeln, propagandistisch zu verwerten und sich der in Berlin weilenden Orientalen anzunehmen. Nach dem Ende des Weltkrieges wird die Nachrichtenstelle umbenannt in „Deutsches Orient-Institut“, dann aber im März 1921 aufgelöst. Ab dem 1. März 1921 wird Krebs deswegen dem neubegründeten Chiffrierbüro in der Abt. II des Auswärtigen Amtes in der Wilhelmstraße zugeteilt. Hentig (1962, S.35) behauptet, er habe damals dem AA vorgeschlagen, Krebs dort einzusetzen und daß dessen Sprachkombinationsfähigkeiten dem Büro vorzüglich zustattengekommen seien. Hentigs Meinung hat Krebs offenbar nicht geteilt, denn er scheint sich dort nicht sonderlich wohl gefühlt zu haben, wobei allerdings ein Teil der Unzufriedenheit auf die schlechte Bezahlung zurückzuführen ist. Aus der Personalakte ist zu ersehen, daß er sich darum bemühte, in eine bessere Gehaltsstufe aufzusteigen. Am 23. Mai 1921 wurde Dr. Friedrich Rosen (parteilos) der neue Reichsaußenminister im ersten Kabinett Wirth. Er war von der Ausbildung her ebenfalls Orientalist (für Persisch und Hindustani) und seit 1890 im auswärtigen Dienst beschäftigt. Rosen und Krebs haben sich offensichlich schon im SOS kennengelernt, weil Rosen dort von 1887-89 Dozent für Hindustani war. Als Krebs im August 1921 den Urlaub in seinem Heimatort Esdorf verbringt, setzt er sich hin und schreibt am 8.8. einen neunseitigen Brief an Rosen, in welchem er darauf aufmerksam macht, daß er im AA nicht entsprechend seinen Fähigkeiten beschäftigt sei . Der Minister antwortet am 15.8. nach Esdorf. Am 5.9. meldet Krebs seine Rückkehr nach Berlin und bittet um einen Termin für die Unterredung mit Rosen. Am 26. Oktober tritt das Kabinett Wirth zurück und damit auch Rosen. Sein Gespräch mit Krebs findet erst einige Tage danach statt.

Nachfolger Rosens als Außenminister im zweiten Kabinett Wirth wurde Rathenau, am 30.1.1922. Bei einem Rundgang durch die Abteilungen des AA blieb er drei Stunden im Zimmer des Legationsrates Krebs hängen. Beim Hinausgehen hörte man ihn sagen: „Hier bleiben Sie nicht mehr lange. Für eine solche Kapazität haben wir höhere Verwendung.“ Drei Tage später wurde Rathenau ermordet, am 24. Juni 1922.

In späteren Nachrufen wird das Auswärtige Amt kritisiert, es habe die außerordentlichen Fähigkeiten Krebs nicht optimal gefördert. Aus der Personalakte geht jedoch hervor, daß man dort in den Jahren 1922-23 durchaus bemüht war, für Krebs einen größeren Wirkungskreis zu schaffen. Hubert Knipping, der bis 1917 ebenfalls in China im Konsulatsdienst tätig gewesen war und Krebs von daher kannte, war nun Leiter der Abteilung IV b (Ostasien) und setzt am 23.8.1922 folgendes Gutachten auf : „Vertraulich! Um die Sprachkenntnisse des Legationsrates Krebs für die Zwecke des AA in noch weiterem Umfange nutzbar zu machen, wobei auch Herr Krebs hinsichtlich seiner Bezüge günstiger gestellt werden könnte, erlaubt sich Abteilung IV b folgende Anregung zu unterbreiten: 1) Tätigkeit beim Sprachendienst, soweit er nicht von Regierungsrat Gautier wahrgenommen wird, besonders Kontrolle von Übersetzungen. 2) Weitere Ausbildung der Attachés, die sich besonderen Sprachstudien widmen. 3) Anstellung als außerplanmäßiger Dozent am Seminar für orientalische Sprachen für Vorlesungen über den Fernen Osten. – Herrn Ministerialdirektor Gneist ergebenst vorgelegt.“ Karl Gneist war der Chef der Personalabteilung. Auf der Rückseite dieses Blattes befindet sich die handschriftliche Stellungnahme Gautiers, der allen 3 Punkten zustimmt. Er hätte sowieso schon bei früheren Gelegenheiten Krebs für die Mitarbeit im Sprachendienst gewonnen.

Am 15.10.1922 schreibt der Wirkliche Legationsrat Bosenick vom AA „persönlich und vertraulich“ an den Geheimen Regierungsrat Wende im Preußischen Kultusministerium, daß man Krebs für das Seminar für orientalische Sprachen (SOS) gewinnen möchte.

Um diese Zeit wurde an der Universität Berlin der Lehrstuhl für Sinologie neu besetzt, und zwar hatte man Otto Franke von der Universität Hamburg berufen. Dieser hatte, wie bereits oben geschildert, fast zur gleichen Zeit mit Krebs die Chinesischklasse im SOS besucht, und beide waren 1894-96 Dolmetscher an der Gesandtschaft in Peking. Franke war dann freiwillig aus dem auswärtigen Dienst ausgeschieden und hatte eine wissenschaftliche Laufbahn eingeschlagen, die ihn über Hamburg nach Berlin führte. Krebs schrieb also an Franke, ob er nicht als Dozent an der Universität angestellt werden könne. Franke, der Krebs nur allzugut kannte, antwortete aus Hamburg sehr zurückhaltend am 5.3.1923: Er habe nicht die Macht, an dem neuen Ostasien-Institut Dozenten anzustellen oder zu entlassen. Die planmäßigen Stellen sind sämtlich besetzt, und da das Personal vom SOS mitübernommen werden muß, sind vermutlich mehr Beamte da als Stellen. Krebs solle sich an das Kultusministerium wenden.

Nach dieser enttäuschenden Antwort wendet Krebs sich am 15.3.1923 also wieder an den Ministerialdirektor Gneist und erinnert ihn daran, daß Dr. Rosen vor einem Jahr mit Kultusminister Becker über Krebs gesprochen habe . Sehr selbstbewußt empfiehlt Krebs sich dann für das SOS und ist der Meinung, daß er dort Japanisch, Tibetisch, Chinesisch und Mongolisch unterrichten könnte, aber Dr. Scharschmidt sei durchaus gut für Japanisch, ebenfalls Missionar Franke für Tibetisch, jedoch für Chinesisch und Mongolisch sei er besser als die offiziellen Dozenten an der hiesigen Universität!

In einem Schreiben vom 2.4.1923 geht es wieder um Gehaltsfragen. So habe er nebenbei für andere Dienststellen Texte übersetzt aus Bulgarisch, Litauisch, Mongolisch, Georgisch. Er sei aber immer noch in der 11. Gehaltsstufe und möchte in die 12. Das Schreiben ist wieder an einen alten Bekannten gerichtet, den Staatssekretär Ago von Maltzan, der 1912 als Legationsrat nach Peking gekommen war.

Wirklicher Legationsrat Bosenick teilt am 11.4. mit, daß er mit Geheimrat Wende vom Kultusministerium gesprochen habe. Dieser sei jederzeit bereit, Krebs zu empfangen. Zur Unterstützung schreibt auch Ago von Maltzan am 12.4. noch einmal an Wende und bittet darum, Krebs entweder am SOS oder an der Universität zu verwenden .
Am 17.5.1923 schreibt Geheimrat Wende an den Wirklichen Legationsrat Bosenick im AA: Er hat mit Krebs und Otto Franke gesprochen. Letzterer hat zwar dessen Fachkenntnisse anerkannt, aber „sehr gewichtige Bedenken gegen die Person des Herrn Krebs.“ Dieser sei „ein Mann, der sich im persönlichen Verkehr schwer einzuordnen vermag“, seine Zuziehung zum neu geschaffenen, befestigten Kreis der im sinologischen Seminar arbeitenden Gelehrten könne leicht zu unerwünschten und der sachlichen Arbeit schädlichen Komplikationen führen.

Damit war endlich die Katze aus dem Sack. Es war Krebs, der sich selbst im Wege stand, durch sein eigenbrötlerisches und einen „normalen“ gesellschaftlichen Verkehr meidendes Verhalten. Wie die aufgezählten Dokumente erweisen, kann dem AA kein Vorwurf gemacht werden; ihre Mitarbeiter haben sich redlich darum bemüht, Krebs ein fruchtbareres Wirkungsfeld zu verschaffen. Das Geplänkel zieht sich noch bis in den Juni 1923 hinein. So hält eine Aktennotiz von Legationsrat Bosenick fest (2.6.23.), daß gegen „die Professoren“ nichts auszurichten ist, man will aber die Neuorganisation des SOS unterstützen und einen Lehrauftrag für Krebs als Gegengabe verlangen. Und Krebs selbst beschwert sich am 7.6.1923 in einem Brief an Staatssekretär von Maltzan über die abfälligen Urteile der Dozenten an der Universität über ihn. So habe a.o. Prof. Dr. Hänisch gegenüber Herrn Bethke geäußert, Krebs sei doch outsider, Laie im (klassischen) Chinesisch. Krebs erwidert, das gelte nicht für seine praktischen Kenntnisse des modernen Chinesisch. Auch Dr. Hauer hielte ihn für einen outsider, weil er jetzt Privatdozent für Chinesisch sei! Dabei habe dieser keine besonderen praktischen Kenntnisse des Chinesischen . Wie bereits oben erwähnt, war Hauer 1907-17 Kollege von Krebs in Peking als 2. Dolmetscher an der Gesandtschaft. Hentig, der beide dort erlebte, schreibt über ihn (1962, S.32): „Dr. Hauer war Spezialist für Mandschurisch, dessen Sprachschatz er in einem großen Lexikon, schließlich von den Japanern fertiggedruckt, niedergelegt hat. Als er sich nach dem Krieg in Berlin für sein Fach habilitierte, gab es keinen Ordinarius, der ihn hätte prüfen können .“ Es gab in Berlin jemand, der dies hätte tun können, nämlich – Emil Krebs. Was dessen Mandschurisch Kenntnisse betrifft, so gibt es bei den einzelnen Autoren verschiedene Anekdoten, ich bringe die Fassung bei Lessing (1930, S.266): „Als mandschurische Prinzen bei einem Empfang sich untereinander der mandschurischen Sprache, die ausgestorben und sozusagen Geheimsprache am Hofe geworden war, bedienten, wer beschreibt ihr Erstaunen, wie Emil Krebs sich zwanglos mit eben dieser Sprache in ihr Gespräch mischte.“

Nachdem die Pläne, Krebs eine zusätzliche Tätigkeit an der Universität oder dem SOS zu verschaffen, endgültig gescheitert waren, beantragt Gautier am 13.7.1923, Krebs neben seinem Dienst in der Chiffrierabteilung auch im Sprachendienst zu beschäftigen . Für diese speziellen Aufgaben würde Krebs ein Entgelt erhalten, dadurch könnte er, wie von ihm gewünscht, die Bezüge der Gruppe 12 erreichen, das AA selbst würde sich durch diese Regelung Ausgaben ersparen (!). Das AA stimmt dieser Regelung zu. Von Gautier als Leiter des Sprachendienstes stammt der Ausspruch: „Krebs ersetzt uns 30 Außenmitarbeiter!“

Im Jahre 1926 beschloß das AA, das Gehalt derjenigen Mitarbeiter aufzustocken, die Fremdsprachen beherrschen. Für jede Fremdsprache sollte der Betreffende zusätzlich 90 Mark erhalten, natürlich mußte er sich einer entsprechenden Prüfung unterziehen. Da Krebs über 50 Sprachen konnte, erhielt das Ehepaar scherzhafte Glückwünsche: „Jetzt werdet Ihr Millionäre!“ Seinetwegen, mutmaßte man, wurde die Honorarabsicht auf zwei Sprachen reduziert. Krebs legte Prüfungen in Chinesisch und Japanisch ab und erhielt ab 1.9.1926 eine Sprachenzulage von 180.- Mark.

Frau Deneke (1967, S.7) berichtet als einzige, daß zweimal sich „die Pforte zu lohnenderer Tätigkeit“ geöffnet habe: „Das Kaiser-Wilhelm-Institut, damals das ‘Hirn Europas’ genannt, wollte ihm eine Professur erteilen. Er lehnte ab, leider.“ Diese Angabe ist allerdings sehr vage. Die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft hatte viele Institute und es bleibt unklar, welches hier in Frage gekommen wäre. – „Das zweite Mal war es Amanullah Chan, König von Afghanistan (1919-28), der damals Europa unsicher machte, um für seine Reformen Ingenieure, Ärzte, Gelehrte zu werben. Aber als Professor in Kabul, als Abenteuer in dem halbwilden Lande, fühlte sich Krebs nicht mehr jung genug.“

Weiterhin berichtet Frau Deneke (1967, S.8-9): „So habe ich meinen Schwager in Erinnerung: in seinem Zimmer in der Lindenallee, Bücher, Bücher bis an die Decke. Das Universum, in Sprachen geballt, auf engem Raum. Da leuchteten die Reihen gelbseidener Bände auf, Geschenke der Kaiserin von China; dazwischen viele in blauer Seide. Seltsame Zeichen auf Pergamenten, auf Holz, auf Palmblättern. Als Möbel ein Stehpult, eine Trittleier, kein Stuhl. Allzu ausgiebige Besucher wurden durch langes Stehen zum baldigen Rückzug gezwungen. Und dazwischen er, in dunkelrotem Kimono, ein Buch vor den Augen, unablässig wandelnd, unablässig murmelnd. Immer freundlich, wenn man ihn störte, aber zerstreut. ‘Mein Krebschen lernt gerade burjätisch.’ Damit wehrte meine Schwester Eindringlinge ab. Er war ein ungeduldiger Mann. Am 31. März 1930 stieg er die vier Treppen im Auswärtigen Amte (kein Fahrstuhl) allzu rasch hinauf. Kurz danach, bei einer Arbeit in türkischer Sprache, fiel er plötzlich um. Gehirnschlag. Er lebte nur noch wenige Minuten.

Am Nachmittag rief das Kaiser-Wilhelm-Institut für Hirnforschung, Berlin-Buch, an und erbat sich im Namen seines Leiters, Prof. Dr. Oskar Vogt, das Gehirn zu wissenschaftlicher Forschung. Es war eine schwere Entscheidung. Seine Frau traf sie, bejahend. Aber es war ihr nicht zuzumuten, bei der Prozedur zugegen zu sein. Die gesetzliche Bestimmung forderte aber die Anwesenheit eines nahen Verwandten. So fuhr ich und die ältere Stieftochter Charlotte-Luise mit in die Stahnsdorfer Friedhofskapelle. Zwar daneben zu stehen, das brachte ich nicht über mich. Ich blieb im Nebenraum, bei offener Tür, und hörte die Hammerschläge und die Geräusche des Sägens. Es war nicht leicht. Alles mußte bei Kerzenschein in dem düsteren Grabgewölbe vor sich gehen. Auf dem Rückwege schwankte das Gehirn in einem Eccicatorglas in der Hand des wissenschaftlichen Assistenten vor mir her.

Später erhielt meine Schwester das Gutachten von Prof. Vogt. Das Gehirn, in 15000 Scheiben zerlegt, hatte keinerlei Abnormitäten aufzuweisen, war ein besonders gut entwickeltes, sehr klar und wohlgeordnetes Gehirn, am ähnlichsten dem eines Mathematikers. In der Ahnenliste, die auch erforscht wurde, fand sich übrigens eine Gelehrtenfamilie, die bei den Vorfahren die vorwiegend ländlichen Berufe kreuzte.“

Ergänzend hierzu berichtet Hentig (1962, S.35): „1955 besuchte ich von Hinterzarten aus den mir aus Moskau bekannten Gehirnforscher Geheimrat Vogt in Neustadt/Schwarzwald. (Vogt hatte das Gehirn Lenins untersucht.) Er fragte mich alsbald nach Krebs und zeigte mir dann Schnitte seines dem Institut vermachten Gehirns. Es war erstaunlich, wie der als Sprachzentrum erkannte Teil des Gehirns zuungunsten aller anderen Partien entwickelt war. Vogt hatte sich von Krebs (noch zu dessen Lebzeiten) erzählen und sogar eine Aufzeichnung über die Art machen lassen, wie er Sprachen studierte und was er später im Amt getrieben hatte.“

(Ob die Untersuchungsmethoden von 1930 noch dem heutigen Forschungsstand und den jetzigen Erkenntnissen der Hirnforschung entsprechen, darf füglich bezweifelt werden.)

Die Beerdigung fand am 4. April 1930 auf dem Stahnsdorfer Südwest-Friedhof statt. So unbekannt kann Krebs doch nicht gewesen sein, da nicht nur in inländischen sondern auch ausländischen Zeitungen Nachrufe erschienen, wie z.B. der London Times oder Gazette de Lausanne. Ein Jahr später erhielt das AA ein Schreiben aus Hermannstadt in Rumänien von Dr.med. Révész, einem Polyglott. Er wolle das Leben von Emil Krebs studieren und bitte um Materialien. Die Witwe Krebs zog 1944 wegen der Bombenangriffe von Berlin nach Naumburg a.d.Saale, wo früher ihre Mutter gelebt hatte. Später ist sie in die Nähe des Bodensees gezogen, wo ihre verheiratete Tochter Irmgard Jasper in Gaienhofen wohnte. Dort ist sie am 11.11.1964 gestorben. Krebs Bibliothek wurde an die Congress Library in Washington, D.C., verkauft.

Emil Krebs und die Sprachen und die Wissenschaft.

Als der wohl bekannteste Polyglott ist Giuseppe G. Mezzofanti (1774-1849) zu bezeichnen, der Kustos der Vatikanischen Bibliothek war und später auch Kardinal. Er soll über 70 Sprachen beherrscht haben. Was Krebs betrifft, so ist es müßig, darüber zu spekulieren, ob er noch mehr Sprachen als Mezzofanti konnte oder nicht. Glasenapp (1964, S.73-74) meint sogar: „Krebs wurde in den Schatten gestellt durch den – mir persönlich nicht bekannt gewordenen – Ludwig Harald Schütz, der 68jährig 1941 starb . Er soll nicht nur mehr Sprachen als Krebs gekonnt haben, sondern er hat sich auch mit diesen in Publikationen wissenschaftlich beschäftigt. Er hat auch Übersetzungen versucht, so in seinem Buch ‘Liebe und Lyrik bei 50 Völkern’ (1933).“

Bei Krebs nennt fast jeder Autor andere Zahlen. Einmal liest man 51, dann 59, dann 68 usw. Der Aufsatz von Gutmann (1930) hat die bezeichnende Überschrift: „Ein Kopf und hundert Zungen“, oder Ruge wählte als Titel: „Der Mann, der 90 Sprachen beherrschte.“ Frau Krebs, der man unterstellen kann, daß sie informiert gewesen sein muß, teilt mit: „Mein Mann beherrschte 68 Sprachen in Wort und Schrift und hat sich mit über hundert beschäftigt.“ Zu diesem Thema besitze ich einen Originaltext von Krebs, aus dem Besitz seiner Stieftochter, Frau Charlotte-Luise Stamm. Im Jahre 1914 in Peking fragte die Hauslehrerin, Frl. Margarete Berlin, Herrn Krebs, wie viele Sprachen er als Dolmetscher übersetzen könnte. Daraufhin setzte er sich hin und schrieb eigenhändig folgende Liste auf ein Blatt, von dem ich eine Xerokopie besitze:
„Ich bin fähig, Übersetzungen in das Deutsche aus folgenden Sprachen anzufertigen:

I. Europäische II. Asiatische
Armenisch (östl.u.westl.) Litauisch Arabisch
Böhmisch Polnisch Chinesisch
Bulgarisch Portugiesisch Hindi
Dänisch-Norwegisch Rumänisch Hindustani (Urdu)
Englisch Russisch Japanisch
Finnisch Schwedisch Javanisch
Französisch Serbisch Malaiisch
Georgisch Spanisch Mandschurisch
Griechisch Türkisch Mongolisch
Holländisch Ungarisch Persisch
Italienisch Siamesisch
Kroatisch

Englisch, Französisch, Italienisch, Spanisch, Russisch, Ungarisch, Chinesisch beherrsche ich außerdem derartig, daß ich aus dem Deutschen in diese Sprachen korrekt Übersetzungen anzufertigen im Stande bin. Auch im Finnischen habe ich soviel Übung, daß ich mir zutrauen kann, aus dem Deutschen ins Finnische Übersetzungen anzufertigen, die den Sinn des Deutschen verständlich wiedergeben. (Die klassischen Sprachen Lateinisch, Griechisch, sowie das Bibelhebräisch, habe ich im Vorstehenden, als kaum in Frage kommend, unerwähnt gelassen.)“

Dazu schreibt die Stieftochter ergänzend: „Es ist ein großer Unterschied, ob man eine Sprache beherrscht, sprechen und lesen kann, oder ob man fähig ist, korrekte Übersetzungen als geprüfter Dolmetscher anzufertigen.“ Wenn ich richtig zähle, komme ich auf 33 Sprachen, wobei er Dänisch und Norwegisch als so nahe verwandt ansieht, daß er sie als eine Sprache anrechnet. Das Türkische erscheint bei ihm unter Europa. Mir fällt auf, daß das Koreanische nicht erwähnt wird.

Der Haupteinwand gegen Krebs ist natürlich der, daß er aus seinen umfangreichen Sprachkenntnissen heraus nichts Positives für eine vergleichende Sprachwissenschaft produziert habe. Entweder konnte er es nicht oder wollte es nicht. Krebs hat auch noch in den 1920er Jahren weitere Sprachen gelernt, zuletzt Isländisch und Baskisch. Hierzu aus den Lebenserinnerungen von Helmuth von Glasenapp (1964, S.73): „Einer der merkwürdigsten Menschen, die ich in Verbindung mit der ‘Nachrichtenstelle für den Orient’ (1917 ff.) kennenlernte, war der Legationsrat Krebs, der Dragoman in Peking gewesen war, aber außer den dort beheimateten Sprachen, die er für seine dienstliche Arbeit brauchte, noch in einer Fülle von anderen Idiomen bewandert war. Sein Hobby war es, neue Sprachen zu erlernen und die früher erlernten immer wieder zu repetieren. Das letztere machte er in der Weise, daß er sich z.B. am Montag mit dem Türkischen, am Dienstag mit dem Chinesischen, am Mittwoch mit dem Griechischen beschäftigte und so fort. Er pflegte dabei, eine Zigarre im Munde, mit dem betreffenden Buche in der Hand stundenlang um seinen Eßtisch zu wandeln. Wenn im AA ein Schreiben in einer Sprache, die er noch nicht kannte, eintraf, erbot er sich, sie innerhalb von wenigen Wochen zu erlernen. Dieser moderne Mithridates oder Mezzofanti interessierte sich bei den Sprachen, die er nicht beruflich benötigte, lediglich für das Grammatische, aber nicht für die Literatur. Er hatte deshalb auch nicht das Bedürfnis, wenn er es in einer Sprache so weit gebracht hatte wie ein Student im 2. Semester, sich weiter mit ihr abzugeben. Auch sprachvergleichende Studien lagen ihm fern, obwohl man doch erwarten sollte, daß ein Mann, der mit 32 oder mehr Sprachen vertraut war, den Wunsch gehabt hätte, die Wissenschaft mit irgendwelchen Studien zu fördern. Er war eben durch und durch ein Eigenbrötler, auf dessen Sonderbarkeiten seine Frau und seine Kollegen Rücksicht nehmen mußten.“

Ein ähnliches Urteil fällt auch Hentig (1962, S.35): „Seine Interessen waren auch ganz einseitig. Als ich Jahre später in Berlin, mit der Ausbildung der Attachés betraut, ihn bat, uns aus seiner einzigartigen Kenntnis einen allgemeinen sprachvergleichenden Vortrag zu halten oder über ein ähnliches Thema eigener Wahl zu sprechen, weigerte er sich strikt, nicht so sehr aus allgemeiner Widerwurzigkeit als aus der Unfähigkeit, anders als rein sprachlich-grammatisch zu denken.“ – Aus der Personalakte geht immerhin hervor, daß Krebs am 1.12.1922 in der Universität Berlin einen Vortrag gehalten hat mit dem Titel: „Chinas innere und öffentliche Politik“ und daß der Text am 20.2.1923 im Druck erschien (in: Der neue Orient).

Eduard Erkes, Professor für Sinologie an der Universität Leipzig, schrieb in seinem Nachruf von 1931 (S.14): „Leider hat er seine Sprachkenntnis wissenschaftlich fast nicht ausgewertet; sei es, daß ihm seine vielfältigen Amtspflichten und das Erlernen immer neuer Sprachen dazu nicht Zeit ließen, sei es, daß schriftstellerische Tätigkeit seiner Neigung nicht entsprach. So sind, von einigen Besprechungen und kleineren Aufsätzen, die er hauptsächlich in der Zeitschrift ‘Neuer Orient’ veröffentlicht hat, seine einzigen größeren Arbeiten die Herausgabe von Grubes nachgelassenem Werk ‘Chinesische Schattenspiele’ (München 1915), das er revidiert und durch Hinzufügung einer größeren Zahl selbst übersetzter Stücke bereichert hat, und ein Aufsatz über ‘Die politische Karikatur’ in der Ostasiatischen Zeitschrift von 1920.“

Das GV (Gesamtverzeichnis des deutschsprachigen Schrifttums 1911-1965) nennt unter seinem Namen nur die „Chinesischen Schattenspiele“. Ruge (1962, S.18) erwähnt als einziger eine weitere Publikation: „Dabei war Krebs keineswegs humorlos. Bei einer lustigen Zecherei fiel das bekannte Götz-Zitat. Sofort setzte er sich hin und übersetzte es schriftlich in vierzig asiatische Sprachen – darunter auch in Keilschrift.“ Die Formulierung: „in 40 asiatische Sprachen“ ist sicherlich falsch, es kann wohl nur heißen: „in 40 Sprachen“. Welch ein Kontrastprogramm zu Ludwig Harald Schütz. Letzterer übersetzte „Liebe und Lyrik“ aus 50 Sprachen und Krebs ausgerechnet das Götz-Zitat in 40 Sprachen! Der Schwager von Frau Krebs, Walther Deneke, hat 1934 diese Übersetzungen des Götz Zitates drucken lassen. Sie erschienen als kleines Heftchen im F.G.Mylius Verlag, Leipzig. Es gab dann 1939 und 1941 weitere Editionen, die immer umfangreicher wurden, nun im Karl Josef Sander Verlag in Magdeburg. Der Titel der Ausgabe von 1941 lautet: „Götz. Wie sag ich’s nur? Mit 45 Zungen. Nebst allerlei Histörchen.“ Hrsgb. von Walther Deneke.

Ferdinand Lessing (1930, S.266-67), der 1909-14 in Tsingtau an der Deutsch-Chinesischen Hochschule im Übersetzungsbüro tätig gewesen und nach dem Weltkrieg Professor für Chinesisch am Berliner SOS war, urteilte in seinem Nachruf am ausführlichsten und wohlwollendsten (wobei man als heutiger Leser Schwierigkeiten hat, seinen Bandwurmsätzen zu folgen): „Was man auch immer für ungünstige Erfahrungen mit den ‘Mezzofantis’ gemacht haben mochte, die alle Sprachen, aber keine gründlich lernen, das strafte diese wunderbare Begabung Lügen. Ein fast unfehlbares Gedächtnis für Abstraktes und Konkretes, für Klänge, Schriftzeichen und Wortbilder, eine stets geistesgegenwärtige Kombinationsgabe, ein scharfes Ohr, ein überaus feines geistig-seelisches Tastvermögen, sicheres Stilgefühl, lebhafte Sprachphantasie und scharfer Verstand, geschichtlicher Takt und eine eiserne Arbeitskraft, dazu eine ungeheure äußere und innere Selbstzucht, die seinem Körper gegenüber allerdings bis zur Tyrannei ging, seinem Geiste wiederum alles unnötig Belastende fernhielt, das alles prägte eine Persönlichkeit von unerhörter Eigenart und Einmaligkeit. (…) Alle Sprachen erlernte er als Sprachgelehrter und Praktiker zugleich, indem er ihren lautlichen, grammatischen und stilistischen Gesetzen dieselbe Liebe zuwandte wie ihrem Wortschatz nebst seiner lautlichen und geschichtlichen Entwicklung und ihrer Idiomatik. So lernte er nicht etwa nur Russisch, sondern Altslawisch und die modernen slawischen Sprachen, nicht etwa nur die chinesische Umgangssprache, sondern die Schriftsprache, dazu in ihren verschiedenen Entwicklungsstadien und die sämtlichen Verwandten dieser Sprachen, soweit sie ihm durch Veröffentlichungen zugänglich waren. Was selbst in gut begabten Köpfen zu einem Chaos sich verwirrt, die Kenntnis nahe verwandter Sprachen und Dialekte, das blieb in seinem wohldisziplinierten Geist scharf gesondert. (…) Es liegt auf der Hand, daß ein Mann mit solchem Wissen und solchen Fähigkeiten, trotzdem er sie in stolzer Bescheidenheit mehr verbarg als zeigte, für unser Ansehen in China sehr viel bedeutete und daß die Chinesen, deren Sprache er bis zu einem solchen Maße meisterte, daß er jedem Gespräch, selbst dem mit beziehungsreichen Anspielungen gespickten, zu folgen vermochte, Vertrauen zu ihm faßten, trotzdem daß er verbindende Geselligkeit mehr mied als suchte und trotzdem auch Chinesen gegenüber gerade diesbezüglich seine Eigenschaften manchmal durchbrachen, die sie an uns so wenig schätzen: pi-tji, Ungeduld. (…) Krebs fühlte nicht das Bedürfnis, sich größeren Kreisen in Wort und Schrift mitzuteilen. Nicht daß er ein geiziger Hüter des ihm anvertrauten Pfundes gewesen wäre. Im traulichen Verkehr gab er gern und reichlich, so reichlich, daß man nicht alles zu fassen vermochte. (…) Die einzige größere Arbeit, die mir bekannt, ist bezeichnenderweise ein selbstloser Akt der Pietät: Die Vervollständigung und Überarbeitung der Übersetzung und des chinesischen Urtextes der ‘Chinesischen Schattenspiele’ von W. Grube (Auf Grund des Nachlasses durchgesehen und abgeschlossen von Emil Krebs. München 1915), an der er, wie aus dem Vorwort B.Laufers hervorgeht, die Hauptarbeit getan und mit der er der Nachwelt wenigstens einen kleinen Geschmack von seiner märchenhaften Wissensfülle hinterlassen hat.“

Benutzte Quellen.

  • Personalakte Emil Krebs im Politischen Archiv des Auswärtigen Amtes.
  • Lessing, Ferdinand: Emil Krebs.- in: Ostasiatische Rundschau 1930, S.266-67
  • Gutmann, Heinrich: Ein Kopf und hundert Zungen.- in: Berliner Illustrirte Zeitung, Nr. 22, 1930, S. 979-82 (mit Foto)
  • Erkes, Eduard: Emil Krebs.- in: Litterae orientales Nr. 46 (Leipzig 1931), S. 13-14
  • Ruge, Helmut: Der Mann, der neunzig Sprachen beherrschte. Leben und Sterben des kaiserlichen Legationsrats Krebs.- in: Christ und Welt, 15. Jhg., Nr. 23, 8.6.1962, S.17-19
  • Deneke, Toni: Das Sprachenwunder. In memoriam Emil Krebs.- (9 Bll., maschinenschr. Manuskript. Leipzig, Okt. 1967) (Frau Deneke war die Schwester von Frau Krebs.)
  • Stamm, Charlotte-Luise: Zum 100. Geburtstag von Legationsrat Emil Krebs am 15. 11. 1967. (4 Bll., maschinenschr. Manuskript.) (Frau Stamm war die Stieftochter von Krebs.)

Weitere Literatur

  • Bierbaum, Otto Julius: Studentenbeichten.- München 1892
  • Franke, Otto: Erinnerungen aus zwei Welten.- Berlin 1954
  • Edith Freifrau von Maltzan: Briefe aus China an ihre Eltern Hermann und Carola Gruson, sowie Tagebuchaufzeichnungen 1914-1917.- Aus dem Französischen übersetzund bearbeitet von Edith von Bohlen und Halbach, geb. von Maltzan. – 235 S. (Privatdruck Essen 1987)
  • Glasenapp, Helmuth von: Meine Lebensreise. – Wiesbaden 1964
  • Gustav von Bohlen und Halbach: Briefe an die Mutter Sophie von Bohlen und Halbach. 1900-1903. – Aus dem Englischen übersetzt und bearbeitet von Edith von Bohlenund Halbach, geb. von Maltzan. – 286 S. (Privatdruck Essen 1984)
  • Hentig, Werner Otto von: Mein Leben, eine Dienstreise.- Göttingen 1962
  • Heyking, Elisabeth von: Tagebücher aus vier Weltteilen.- Leipzig 1926
  • Matzat, Wilhelm: Die Tsingtauer Landordnung des Chinesenkommissars Wilhelm Schrameier.- Bonn 1985
  • Matzat, Wilhelm: Neue Materialien zu den Aktivitäten des Chinesenkommissars Wilhelm Schrameier. – Bonn 1998

Eine neuere Geschichte der Hirnforschung bringt
Michael Hagner: „Geniale Gehirne.“ München 2007, dtv, 374 Seiten, 19,50 EUR

Zu Emil Krebs ist jetzt ein Sammelband, im Taschenbuchformat, erschienen mit dem Titel: „Emil Krebs. Kurier des Geistes.“ Herausgegeben von Peter Hahn.- Badenweiler: Oase Verlag 2011. – 263 Seiten, mit vielen Fotos. Insgesamt liefern 7 Autoren Darbietungen zu speziellen Themen. Ausführlich sind die Ausführungen zur Biographie von Krebs durch Erich Hoffmann.

Zu seinem 150. Geburtstag würdigt ein neues Buch das Ausnahmetalent.

Aktualisierte Fassung vom 1.04.2017